Wie die Bürgerämter der Zukunft und ein resilientes Staatswesen aussehen und warum künftig die Daten und nicht mehr die Bürger quer durch die Stadt und Republik laufen müssen – darüber sprechen Andreas Rathgeb, Senior Vice President Consulting Services & Industry Lead Public Sector Deutschland von CGI, und Tobias Koch, langjähriger Director Consulting Services von CGI in Estland, in der neuesten Folge unseres Podcasts „Building a Digital Nation. Insights für Bund, Länder und Kommunen“. Außerdem wird aufgezeigt, wofür der Staat künftig sogar Roboter zum Einsatz bringt. Moderiert wird die Folge von Aline-Florence Buttkereit.

 

Hinweis: mit "Play" wird eine Verbindung zu Podcastbude, Media On Work GmbH, Potsdam hergestellt.
 

Hier folgt ein Transkript der vierten Folge des Podcasts „Building a Digital Nation“: 

Herzlich willkommen zum Podcast „Building a Digital Nation.  Insights für Bund, Länder und Kommunen“. Wir besprechen hier Themen rund um Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Uns interessieren Antworten zu Technologien, Menschen und Methoden. Wo steht Deutschland mit der Digitalisierung? Wieso ist Estland schon weiter? Wen und was braucht ein digitaler Staat in der Zukunft? Und wie können beide Nationen voneinander lernen?

In Folge vier von „Building a Digital Nation“ thematisieren wir die Zukunft der öffentlichen Verwaltung. Andreas und Tobias sprechen unter anderem darüber, warum es so wichtig ist, bei der Digitalisierung vorauszudenken. In dieser Folge widmen wir uns außerdem auch mal dem Bereich öffentliche Sicherheit, der ja nun mal auch zum Public Sector gehört, und diskutieren, wie dieser denn in Zukunft durch Künstliche Intelligenz und andere technische Lösungen verändert und vor allem aber auch bereichert werden könnte. Dazu lassen wir uns auch von einem Experten erzählen, was in dieser Richtung heute schon getestet wird.

Heute ist die Zukunft von gestern. Das steht bei mir um die Ecke in München in großen Buchstaben auf pinken Neonröhren geschrieben. Und immer, wenn ich da dran vorbeilaufe, denke ich mir, dass es eigentlich echt richtig schön ist. Ich mag es, weil dieser Spruch die Zukunft so schön nah heranholt. Die Zukunft ist nicht mehr nur eine Zeiteinheit, die ganz weit weg ist und irgendwie nichts mit mir zu tun hat, sondern die kommt so richtig in mein Jetzt. Heute ist die Zukunft von gestern. Das bedeutet ja auch, dass man heute die Zukunft von morgen gestalten kann. Also schon heute. Heute kann man mit der Zukunft anfangen. Andreas, was bedeutet das denn für die Gestaltung der Zukunft von der öffentlichen Verwaltung?

Andreas Rathgeb: Ja, du hättest mich eigentlich auch fragen können: Was bedeutet es denn für deine Arbeit? Weil genau das tue ich auch und viele meiner Kolleginnen und Kollegen: diese Zukunft gestalten. Und vielleicht ist da erst mal spannend zu gucken, in welche Richtung wir denn helfen, dort die Entwicklungen zu drehen. Das ist natürlich auch die Gestaltung von Services, die für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen im Zusammenspiel mit der öffentlichen Hand angeboten werden. Diese gestalten wir nicht nur so an vielen Stellen, wie es vielleicht gesetzlich gerade notwendig ist, sondern gehen an vielen Stellen darüber hinaus. Gestalten eben die Zukunft und denken in Richtung proaktiver Services. Das heißt, die Services kommen sozusagen auf die Bürgerinnen und Bürger im richtigen Moment zu. Wir denken und arbeiten heute schon am Sharing von Daten. Das Sharing von Daten, das Teilen von Daten, von öffentlichen Daten, die wir zugänglich machen, da gibt es eine Vielzahl von Daten, wo man es tatsächlich kann, ermöglicht das Entstehen neuer Geschäftsmodelle. Das heißt, die private Wirtschaft kann da wieder darauf zugreifen und kann daraus Produkte gestalten, Dinge ableiten. Und wir arbeiten an evidenzbasierten Entscheidungen. Da kann man sich beispielsweise die Statistikbehörde in einer Stadt oder ein statistisches Landes- oder Bundesamt vorstellen. Dort werden Daten immer schon ausgewertet. Die werden jetzt deutlich mehr, häufiger, detaillierter ausgewertet, sodass Entscheidungen basierend auf diesen Daten getroffen werden können. Das heißt ein bisschen weniger Bauch bei einer Entscheidung eines Politikers, einer Politikerin oder eines Verwaltungschefs, einer Verwaltungschefin und ein bisschen mehr Ratio. Sozusagen evidenzbasiert.

Das heißt, ihr unterstützt in dem Moment eigentlich das Vorausdenken. Vorausdenken in die Zukunft ist ja ganz wichtig, wenn man jetzt schon Dinge gerade in der Digitalisierung ebnen will. Denn das ist ja auch nicht alles von heute auf morgen umgesetzt. Sonst holt einen das Ganze ja wieder ein. Und damit unterstützt ihr das Ganze?

Andreas Rathgeb: Ganz genau. Und an diese Konzepte, an diese Vorgehensweisen, an diese Möglichkeiten muss man sich auch gewöhnen. Das heißt, da helfen vielfach erste Schritte durch Leuchtturmprojekte und Beispielprojekte, bei denen man das sozusagen lernen und danach immer mehr umsetzen kann.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Andreas Rathgeb: Es gibt ein schönes Beispiel mit dem Corona-Dashboard der Bundesregierung. Als die Pandemie auf uns zukam, gab es eine Unzahl von Informationen, die natürlich für die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger sortiert werden mussten. Und hier konnten wir eben mitgestalten an einem Dashboard, das der Bundesregierung zur Verfügung gestellt wurde. Auf dessen Basis wurden tatsächlich nicht nur Informationen, die jetzt aus den Gesundheitsämtern kamen, sondern eben auch aus dem freien Internet, aus Artikeln journalistischer Arbeit, die sozusagen automatisch gesammelt waren und dann komprimiert dargestellt wurden, eben dann wieder angeboten. Ein Dashboard, schlicht und ergreifend, das dann mitgeholfen hat, diese schwierigen Entscheidungen letztlich auch zu treffen.

Das Spannende ist ja jetzt hier an der Stelle bei dem Thema auch der Blick nach Estland. Und da habe ich eine ganz interessante Zahl gefunden. Denn laut eines Artikels im Tagesspiegel ist es so, dass inzwischen 99 Prozent aller staatlichen Verwaltungsleistungen tatsächlich übers Netz laufen. Und als Bürger Deutschlands hat man hingegen ja manchmal eher noch so das Gefühl, wir sind bei digitalen Services sehr im Gestern unterwegs und rennen fast dem Heute hinterher. Also wenn wir auch noch mal so an die letzten Folgen denken, wo man gehört hat, wie eigentlich Apps aussehen, die wir sonst nutzen und was uns da im Moment die Verwaltung bietet. Inwiefern zeigt uns denn, Tobias, Estland da jetzt schon, wie es in Zukunft mal in Deutschland laufen könnte?

Tobias Koch: Deutschland wird da seinen ganz eigenen Weg finden, und ich glaube, in Deutschland bewegt sich da ganz viel in die richtige Richtung. Es gibt unheimlich viel Ambition, motivierte Kräfte auch in Verwaltungsebenen und Politikerinnen und Politiker, die da unheimlich viele Ideen haben. Von denen braucht es noch mehr, aber Deutschland wird seinen eigenen Weg gehen. Ich glaube, was Estland definitiv zeigt, ist, dass es Schritt für Schritt geht. Du fängst irgendwo an, du schaffst eine Basis und bewegst dich Schritt für Schritt weiter. Und das heißt, je mehr du dich bewegst, umso mehr Möglichkeiten eröffnen sich dir auch, was du machen kannst. Also wir haben über die Grundlage, über die X-Road und über die digitale Identität gesprochen, wie die Grundvoraussetzungen sind, damit letztendlich überhaupt öffentliche Dienstleistungen digital werden können. Und das ermöglicht aber wiederum Erneuerung, Innovation. Das heißt, das ist eine kontinuierliche Entwicklung. Wenn wir über Evidenzbasiertes sprechen, was Andreas angesprochen hat, wenn wir über die Nutzung von Künstlicher Intelligenz beziehungsweise Machine Learning als Zwischenschritt sprechen, da kann man natürlich, wenn man eine solide funktionierende Basis hat, neue Dienstleistungen schaffen, neue Geschäftsmodelle finden etc. Ich glaube, zum Beispiel was das Wählen angeht, ist Estland definitiv ein Wegweiser. Es ist etwas, was sich viele noch nicht zugetraut haben. Estland steht da relativ alleine, was das Online-Wählen angeht. Du kannst nach wie vor auch analog wählen, aber du hast halt letztendlich jederzeit die Möglichkeit, über das Internet zu wählen. Da wird jetzt daran gearbeitet, dass es in Zukunft tatsächlich übers Mobiltelefon geht. Bisher ist es immer noch desktopbasiert, aber es soll auch übers Mobiltelefon gehen. Aber das sind so Inspirationen. Also ich sage jetzt nicht, dass man in Deutschland jetzt auf Teufel komm raus irgendwie anfangen soll, das Wählen zu digitalisieren. Man muss gewisse Zwischenschritte gehen, um auch ein Vertrauen aufzubauen, um eine Transparenz aufzubauen, damit Bürger und Bürgerinnen tatsächlich verstehen, dass auch die Verwaltung so arbeiten kann. Also es ist für die Verwaltung ein Prozess und für die Bürger und Bürgerinnen ein Prozess. Insofern glaube ich, dient Estland als diese Inspiration, als Reallabor tatsächlich sehr gut. Man kann da sehr viel rausziehen. Die estnische Justiz stellt sich ähnlichen Digitalisierungsfragen wie die deutsche Justiz zum Beispiel. Das heißt, man kann gucken, was die Esten machen, wie wird es gebaut, wie wird es in der Cloud-Infrastruktur umgesetzt und was können wir für Schlüsse daraus ziehen? Welche Leute können wir mitnehmen etc.? Deutschland wird seinen eigenen Weg gehen und geht seinen eigenen Weg, aber kann dann definitiv zurückgreifen auf estnische Experten und auf estnische Beispiele.

Also wäre der Weg aus dem Gestern von Deutschland quasi schrittweise zu vollziehen?

Andreas Rathgeb: Vielleicht ja. Zwei Aspekte, die hier hineinspielen. Du hattest es gerade so schön gesagt, in Estland laufen die Daten. Bei uns laufen tatsächlich zu häufig noch die Bürgerinnen und Bürger und zu wenig die Daten. Der Aspekt ist aber sicherlich auch der, dass man nicht mehr dahinter zurück kann, das gilt für jeden einzelnen Schritt, den man erreicht. Das heißt: Haben wir einmal einen Service geschaffen und haben das Gros der Services online verfügbar, werden wir nicht mehr darüber diskutieren, dass wir wieder in die analoge Welt quasi zurückfallen. Dann denken wir im kommunalen Bereich der Bürgerämter ganz anders, auch vielleicht multidimensional. Wir kommen auf ganz andere Services, aber wir fallen nicht mehr dahinter zurück. Wir werden also nicht mehr einen Rückschritt machen, sondern werden insgesamt das, was wir jeweils gelernt haben, die Behörde gelernt hat, die Kommune und der Bund jeweils gelernt haben, das als Basis nehmen und das nächste darauf aufsetzen. Und wenn man dieses Verständnis, auch dieses Vertrauen darauf hat, so funktioniert die digitale Transformation, dann kann man wunderbar auch in die Zukunft blicken und sagen: Na ja, das, was wir jetzt gerade tun, verändert alles in der Zukunft und lässt jedes folgende Projekt, jede folgende Anpassung in Zukunft schon anders aussehen. Genau in dieser Haltung kann man ja sehr positiv in die Zukunft gehen und in der Tat so ein bisschen natürlich neidisch Richtung Estland gucken auf der einen Seite, aber da auch schnell mal was abgucken und schnell dann den einen Schritt machen, der uns dann auch wieder dazu führt, dass wir da nie wieder zurückfallen.

Du hast gerade das multidimensionale Bürgeramt erwähnt. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Andreas Rathgeb: Wir diskutieren es gerade mit einer Reihe großer Kommunen in der Form, dass wir sagen: Das bisherige Bürgeramt, die Bürgerämter leiden in vielen Kommunen darunter, dass die Besetzung der Bürgerämter häufig problematisch ist und dass es dann wieder Warteschlangen gibt. Das kennt man aus verschiedenen Teilen von Deutschland. Immer wieder gleiche Meldungen, Ansturm der Bürger zu bestimmten Zeiten, dann Reisezeit in dem Moment oder eben Pass verlängern und Ähnliches. Und dieses Konzept multidimensional meint, dass man auf der einen Seite das Bürgeramt in der Form noch hat, wie man es quasi gewohnt war, als analogen Platz für Dienstleistungen, vielleicht digital untermauert, sodass ich eben den Termin vorher schon vereinbart habe und nicht warten muss und ich bestimmte Daten vorher schon vorbereitet habe. Dass ich die freie Kapazität, die ich durch diese Beschleunigung hier erreiche, dadurch nutze, als Kommune auch ein mobiles Büro anzubieten für diejenigen, die tatsächlich keine Chance haben, zu dem Büro zu kommen, aber gleichzeitig auch einen Onlinedienst nicht nutzen können und eben den dritten Pfad, die dritte Dimension, den wirklich mobilen digitalen Service, der sozusagen auf dem Handy läuft und mit dem man Anfragen sozusagen online befriedigen kann. Das eben in der Multidimensionalität. Wir haben gesehen in dem Piloten, dass es gigantisch die Akzeptanz aller erhöht und in der Kommune dann sozusagen die Diskussion von: Ich brauche noch ein Bürgeramt mehr oder noch eine halbe Stunde mehr Öffnungszeit oder nicht nur den langen Donnerstag, sondern auch den langen Dienstag, diese Diskussion dann ganz leicht auf modern dreht. Nämlich haben wir ja die Online-Variante und wir haben noch was gewonnen, zum Beispiel mit der mobilen Variante für Menschen, die eben tatsächlich diese besondere Hilfe benötigen.

Tobias Koch: Diesen Wandel, den Andreas angesprochen hat, das war ja auch das Eingangsmotto, was du angesprochen hast: Heute machen wir die Zukunft von morgen. Das bedeutet ja, dass die Leute, die heute diese Services mobil nutzen, die gewöhnen sich an diese Technologie, die werden damit älter. Das heißt, da kommt eine nächste Generation. Und so wird sie Teil des digitalen Wandels und nutzt nur noch diese digitalen Kanäle, denn die Verwaltung kann auf einmal digital oder lernt auf einmal digital. Und das ist halt glaube ich eine unheimlich wichtige Investition in die Zukunft, da vieles in Zukunft denke ich, auch nur noch digital geleistet werden kann. Denn verwaltungstechnische oder personale Schwerpunkte müssen woanders gesetzt werden. Das heißt, versuchen wir das Potenzial von Informationstechnologie, was Automatisierung angeht etc. auch zu nutzen, um letztendlich mit den Herausforderungen der Zukunft auch zurande zu kommen oder die zu meistern.

Andreas Rathgeb: An der Stelle kann ich noch ein Potenzial anfügen, das tatsächlich wichtig ist. Das ist das Thema Geschwindigkeit, auch eine Dimension der Digitalisierung. Es fällt uns, wenn wir zurückblicken, schwer, uns vorzustellen, dass man ohne diese gewisse Chance, etwas schnell umzusetzen, Krisen, die wir jetzt gerade erlebt haben oder wir vielleicht in der näheren Zukunft erwarten wird, bewältigen können. Das heißt, wir machen uns dadurch in unserem Staatswesen stabil, resilient, indem wir tatsächlich diesen Aspekt Geschwindigkeit als Kompetenz in unser Staatswesen integrieren. Vielleicht als Wert sogar, weil wir sagen, darauf können wir uns dann verlassen. Wir können schnell agil auf Situationen reagieren, und zwar nicht nur als Individuum, das schafft jeder besser oder schlechter, sondern wir wissen auch, dass nicht nur Unternehmen das können müssen, sondern eben auch das Gemeinwesen. Das ist schon eine beruhigende Geschichte, dass da viele mitdenken und daran arbeiten, dass genau diese Kompetenz und diese Fähigkeit letztlich hier geschaffen wird. Da müssen wir Basics dadurch schaffen, dass wir eben bestimmte Technologien haben und die Menschen mitnehmen, die hier Mitentscheider sind. Wir müssen tatsächlich die gesamte Community mitnehmen, die Wähler, die Wählerinnen, die Bürger, die Bürgerinnen. Und so können wir eben hier eine Resilienz des Staatswesens schaffen in dem Aspekt, dass wir diese Geschwindigkeit nicht als Bedrohung sehen, sondern als Chance und als Notwendigkeit auch für die Herausforderungen der Zukunft.

Spannend fand ich in den Ausführungen von euch beiden, dass wir hier eigentlich eine Denkänderung haben. Sonst geht es oft bei Prozessen so, dass – wenn man sie ändert –  sie nur angepasst werden. Und hier geht es ja aber nicht darum, wie ich jetzt den gleichen Service digital mache, also bleibe ich bei meinem gleichen, sondern wie digitalisiere ich diesen Service? Also das ist ein ganz anderer Moment. Mit der digitalen Welt, mit allen Möglichkeiten, die mir hier zur Verfügung stehen, wie kann ich da sozusagen in der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft einen guten Service bieten?

Tobias Koch: Wenn man da an Netflix denkt als großes Beispiel. Netflix hat Streaming letztendlich erfunden und hat damit ein komplett neues Geschäftsmodell gefunden. Und das ist möglich aufgrund von Cloud-Technologie, Digitalisierung und Information. Und ich glaube, das ist auch das, was man in der Verwaltung abgreifen kann. Wir haben es in der Hand, eine neue Verwaltung zu schaffen. Eine Verwaltung, die nah am Bürger dran ist, die aber gleichzeitig ein moderner Arbeitgeber ist, wie Andreas auch früher schon angesprochen hat. Eine Verwaltung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Handwerkzeug an die Hand gibt, das sie für diese moderne Welt brauchen. Und das ist, glaube ich, das Spannende daran.

Jetzt hast du gerade schon das Thema disruptive Innovation mit dem Netflix-Beispiel reingebracht, also wie so eine Innovation den ganzen Markt auf den Kopf stellt. Was müsste man in Deutschland denn aus Estlands Errungenschaften schaffen, um so eine richtig große Veränderung herbeizuführen? Also was würde so einen richtigen Paradigmenwechsel bei uns in Deutschland im Public Sector herstellen?

Tobias Koch: Ja, ich glaube, wir sind da wieder bei den Basics. Die Basics so richtig in Schwung bringen. Ich weiß ja, dass da viel getan wird, viel versucht wird. Andreas hat vorher über die Registermodernisierung gesprochen. Das ist die elektronische Identität. Dass das eine Art und Weise ist, wie ein Bürger sich sicher im Internet ausweisen kann und auch, ob es dann eine staatliche Behörde oder Einrichtung ist, die eben diesen Nutzern einen Service anbietet. Die muss dann auch darauf vertrauen können, dass das auch dieser Bürger ist. Da wird ja auch viel gemacht in Deutschland, das sind ja viele verschiedene Anbieter. Aber das ist gleichzeitig eine Schwierigkeit, da dann tatsächlich auch eine Nutzerbasis zu bekommen, damit dieses Vertrauen entsteht. Da muss ich dann tatsächlich zu einem Thema zurückgehen, das es in Estland seit 20 Jahren gibt, und das sind eben die digitale Identität und diese wirklich funktionierende Interoperabilitätslandschaft. Also dass die staatlichen, kommunalen und privaten Einrichtungen vertrauensvoll und sicher Daten austauschen können. Alles andere ist dann halt das, was Deutschland selber braucht. Also Deutschland wird das darauf bauen, was wirklich gebraucht wird. In dem Sinne noch ein Punkt: In Estland werden auch immer wieder Unterhaltungen und Diskussionen darüber geführt, ob es irgendwelche Services gibt, von denen wir eine konkrete Erwartung hatten, die Bürgerinnen und Bürger brauchen jetzt diesen Service. Aber tatsächlich wird er nicht gebraucht. So etwas kann vorkommen und das muss auch vorkommen dürfen. Das ist auch wichtig, so etwas zuzulassen. Das ist dieser Prozess, den ich jetzt auch schon mehrmals angesprochen habe. Schritt für Schritt auch lernen.

Ja, da sind wir wieder beim Probieren.

Andreas Rathgeb: Aspekte können natürlich auch sein, Modelle wie die Gesetzgebung direkt mit der Ausführung des Gesetzes zu verbinden. Sozusagen ein Gesetzestext, der direkt in Programmcode verwandelt wird, wenn man das so theoretisch sagen will. Praktisch könnte man das so machen, dass quasi Gesetze erst dann verabschiedet werden, wenn die Algorithmen dazu auch existieren. In der Richtung könnte man denken, das würde nochmals viel verändern. Und wenn man die Services, über die wir jetzt in den letzten Folgen auch schon gesprochen haben und über die wir digital an die Bürgerinnen und Bürger oder an die Unternehmen heranführen, letztlich immer so auch öffnet, dass andere Anbieter diese Services direkt nutzen können und quasi noch mal veredeln können, das sind nicht nur die Daten, sondern auch die Services, in dem Moment wäre es möglich, dass beispielsweise ein privater Anbieter einen Umzug anbietet. Dieser Umzug hat eben auch das Ummelden integriert und der würde für mich das dann tun. Ich hätte quasi ihm das freigegeben, dass er mich digital ummeldet und Adressänderungen dann damit durchführt. Und das würde für mich in einem Portal passieren, das gar nicht mehr direkt mit dieser Stadt, wo ich hinziehe oder wo ich weggehe, zusammenhängt, sondern ich hätte nur noch diesen Dienstleister, sozusagen dieses Netflix-Beispiel von Tobias, diesen neuen, innovativen Anbieter, der mir jetzt den Umzug Ende zu Ende organisiert.

Tobias Koch: Was Andreas gesagt hat, was den Gesetzesprozess angeht: Es ist ein Thema, über das ich schon sehr viel nachgedacht habe. Ich glaube, dass auch eine wichtige Komponente ist, das, was du Andreas vorher gesagt hast: die Daten und das Evidenzbasierte. Ich meine, du schaffst eine Realität durch ein Gesetzgebungsverfahren. Das heißt, das, was im Gesetz erfasst wird, das wird einen Einfluss haben auf die Statistik, auf die Wirtschaft und auf die Gesellschaft. Das sind alles Dinge, die man in einem gewissen Maße modellieren und abschätzen kann, wie sich ein Gesetz auswirken wird. Und ich glaube, es gibt ganz viel Spannendes, was da noch passieren kann und passieren wird.

Deswegen haben wir zu dem Thema Justiz und diesem ganzen Aspekt später eine weitere Folge unseres Podcasts. Ich würde gerne noch mal über den Tellerrand hinausschauen, was noch alles zum Public Sector gehört. Wir haben jetzt sehr viel über Verwaltungsthemen gesprochen. Zum Public Sector gehört ja aber auch das Thema öffentliche Sicherheit, also Polizei, Feuerwehr und so weiter. Das sind auch alles systemrelevante Bereiche. Und es ist ganz spannend, weil da gibt es durchaus auch neue Einsatzszenarien von neuen Technologien, um die Zukunft der öffentlichen Sicherheit und der Verwaltung zu verbessern. Was es künftig geben könnte, das hören wir jetzt von Marco de Friend, der uns aus dem Innovation Lab Karlsruhe von CGI erzählt.

Marco de Friend: Alles, was mit Robotik zu tun hat, das wird für große Veränderungen sorgen. Aber auch in Hinblick auf: Wie kann man Roboter überhaupt in die Public-Welt oder in das normale Leben hineinbringen, um somit auch einen Mehrwert zu generieren, sei es auch in Richtung Sicherheit. Safe Places ist da ein Fachbegriff oder überhaupt ein Schlagwort, wo sich die Veränderungen glaube ich sehr, sehr deutlich zeigen werden. Man kann zukünftig Plätze überwachen und schauen, was eigentlich darauf passiert. Das heißt, es gibt Kameras überall, die scannen den Platz ab und schauen, wie sich Menschen dort auf dem Platz bewegen. Geht es denen gut? Geht es denen schlecht? Oft kann man über Körperhaltungen nachweisen, wie es denen geht oder ob sie gerade Hilfe benötigen. Und somit kann man zum Beispiel, wenn dort jemand am Boden liegt und die Zivilcourage bei den anderen Leuten jetzt gerade nicht so hoch ist, nachschauen, was eigentlich mit dieser Person ist. Da kann man dann über Software und KI erkennen, müsste dort mal jemand einen Rettungsdienst hinbringen oder überhaupt mal nachschauen, was denn da eigentlich passiert ist, dass diese Person auf dem Boden liegt?

Andreas, wie realistisch ist das denn, dass wir in Zukunft tatsächlich das Thema Robotics auch in die öffentliche Sicherheit noch mehr reintragen?

Andreas Rathgeb: Es sind tatsächlich eine ganze Vielzahl von Technologien denkbar. Und dieses Beispiel ist tatsächlich ein Beispiel, das man ein Stück weit erstmal so ein bisschen ins Gruselkabinett geschoben hätte, aus Datenschutzgründen. Wir haben jetzt Ansätze, um das tatsächlich aber sicher zu lösen. Sozusagen eine staatliche Instanz, der man vertraut, dass jetzt keine Gesichtsdaten ausgewertet werden in dem Fall oder Menschen getrackt werden, wohin sie gehen, aber überwacht werden in dem Sinne, dass ich eben feststelle, wie in dem Beispiel, dass eben jemand, der am Boden liegt und offensichtlich Hilfe benötigt, dann Hilfe auch schnell gewährt bekommt. Solche Diskussionen, dass wir Plätze haben, die überwacht werden müssen und dafür auch mehr Kameras brauchen, die Diskussion läuft in vielen Kommunen und Städten in Deutschland. Das heißt, wir haben ein Gefühl dafür, das ist Realität. Öffentliche Sicherheit diesbezüglich, dieser Aspekt ist da, und eine Antwort kann eben auch eine technische sein. Und diese Antwort können wir heute geben. Das heißt die öffentliche Hand, die Kommune hier kann eben auch darauf zurückgreifen und hat eine Chance, diese einzusetzen. Ich kann das Weiterdenken in eine Technologie wie Drohnen, um vielleicht Gebäude zu überprüfen bezüglich so etwas wie Nachhaltigkeit. Wenn wir jetzt im Winter Straßen oder öffentliche Gebäude in Straßen scannen würden, wo es besonders hohe Wärmeverluste gibt, da könnte ich nachschauen, wo ich hier bestimmte Potenziale habe, wo ich durch Isolierung und Ähnliches etwas erreichen kann. Das heißt, nach vorne gedacht gibt es noch deutlich mehr.

Beim Thema öffentliche Gebäude hat Marco de Friend durchaus auch noch ein paar Ideen, wie Robotik helfen könnte.

Marco de Friend: Wir schauen gerade in Richtung Posenerkennung. Das heißt, wir haben ja einen Roboter bei uns im Innovation Lab, der permanent Patrouille fährt, und der Roboter erkennt durch die Posenerkennung, wie ich zum einen auf dem Platz sitze oder auf einer Couch, zum anderen erkennt er aber auch, wenn ich auf dem Boden liege und sieht dann: Oh, Marco geht es jetzt nicht so gut, wieso liegt die Person da auf dem Boden, da stimmt etwas nicht. Ich kann sowohl den Lokationsmanager informieren als auch eventuell später die Einsatzkräfte. Und das soll nachher darüber hinaus sogar so weit gehen, dass – wenn ein Feueralarm zum Beispiel ausgelöst wird – jeder, der sich nicht in Richtung Ausgang bewegt, vom Roboter erkannt wird und auch aufgefordert wird, die Lokation zu verlassen. Und der sieht dann auch wirklich, dass die Person sich in Richtung Ausgang bewegt durch diese Posenerkennung.

Fahren im Reallabor Estland schon Roboter draußen herum und gucken, ob es uns noch allen gut geht?

Tobias Koch: Die fahren nicht draußen auf der Straße herum und gucken, ob es uns gut geht. Aber es gibt einige Beispiele davon, wie Robotik tatsächlich auch im öffentlichen Raum genutzt wird. Also es gibt in Tallinn immer wieder temporär selbstfahrende Fahrzeuge, die letztendlich Menschen von A nach B bringen, also selbstfahrende Busse. Es gibt aber auch die kleinen Lieferroboter, die Starship-Roboter. Das ist ein estnisches Unternehmen, das sowohl in Tallinn als auch in Großbritannien und in den USA Lieferungen an Universitäten ausführt. Das ist etwas, wo dieses Unternehmen weltweit definitiv zu den führenden Kräften gehört. Insofern wird da tatsächlich viel experimentiert. Von staatlicher Seite guckt man dann auch immer wieder, was für Möglichkeiten es gibt, da irgendwie zu kooperieren. Aber das sind tatsächlich bisher eher private Initiativen, und der Staat wird dann gegebenenfalls schauen, inwieweit das Mehrwert gewinnen kann.

Die Wirtschaft erst einmal vorfühlen zu lassen, wie gut die Technologien funktionieren und wie sie einsetzbar sind, macht im verwaltungsstaatlichen Kontext auch Sinn und ist ja auch keine verkehrte Art und Weise.

Tobias Koch: An dieser Stelle würde ich noch sagen, das hat ja die Wirtschaft probiert, aber die Wirtschaft braucht auch einen entsprechenden Rahmen, in dem sie probieren darf. Also was ist so ein rechtlicher Rahmen, in dem sie diese Dinge ausprobieren darf, um dann möglicherweise das auch irgendwann dem Staat an die Hand zu geben.

Andreas Rathgeb: Wir können da einiges lernen. Tatsächlich einmal aus den USA. Die großen Cloud-Provider sind dort in den USA speziell auch so entstanden, dass sie eben besondere staatliche Hilfe bekommen haben zu Beginn. Und wie sah die aus? Es gab eine Gesetzgebung, die die öffentliche Hand dazu gedrängt hat, ihre Anwendungen, die sie gebaut haben, in die Cloud zu bringen. Man musste sozusagen nachweisen, warum man nicht mit einer bestimmten Anwendung in die Cloud geht. Das hat einen besonderen Push gegeben und eine besondere Entwicklung ausgelöst. Da kann man viel davon lernen. Und die Verbindung zwischen öffentlichem Sektor und privater Wirtschaft hier kann man auch in dem Sinn sehen, dass wir tatsächlich Impulse aus dem öffentlichen Sektor in den privaten geben können, um letztlich Innovation zu steigern. Wenn ich das in Richtung Drohnen sehe, dann wäre das: Die öffentliche Hand setzt selbst Drohnen ein und ist somit noch mehr gewillt, bestimmte Spielregeln dafür festzulegen, ist selber auch Nutzer und sorgt für einen bestimmten Grundbedarf und ermöglicht, dass dieser Markt dann letztlich auch entstehen kann und schneller entstehen kann und Chancen vielleicht auch für lokale Unternehmen dann bietet.

Kommen wir zur Abschlussfrage: Was von gestern hilft uns noch heute und wollen wir auch in Zukunft beibehalten?

Andreas Rathgeb: Sehr coole Frage! In der Tat ist es der Austausch zwischen den Menschen. Also das heißt, auch wenn ich persönlich daran denke, wie man Projekte umsetzt und Menschen auch in der Verwaltung mitnehmen, dann ist es oftmals eben auch der persönliche Austausch. Den möchte ich nicht missen. Dieses Feedback oftmals ist dann das entscheidende Meeting vielleicht gewesen oder das entscheidende Gespräch in der Kaffeeecke, auf das ich auch in Zukunft nicht verzichten möchte und das uns sicherlich noch über viele weitere Innovationen hinwegtragen wird.

Tobias Koch: Ja, definitiv ein wichtiger Punkt. Also letztendlich sind das die Menschen, für die wir digitalisieren, mit denen wir digitalisieren. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Eine Eigenschaft, die ich in Estland unheimlich zu schätzen gelernt habe, ist dieser Pragmatismus, tatsächlich zu denken: Was macht wirklich Sinn? Was brauche ich gerade in diesem Augenblick und wie kann ich vorankommen? Das wird Estland auch noch weiter voranbringen. Das ist so ein Alleinstellungsmerkmal für Estland. Was auch, glaube ich, immer wieder für Gäste aus aller Welt, die nach Estland kommen, so beeindruckend ist, ist, dass man sehr pragmatisch an diese Lösung herangeht und auf dem Weg Lösungen findet für Fragen, die sich stellen, die man nicht immer voraussehen kann.

Und pragmatisch heißt ja manchmal auch, dass man eben nicht alles wegschmeißt, sondern auch gewisse Dinge behält und positiv in die Zukunft trägt. 

Vielen Dank fürs Zuhören und gemeinsames Eintauchen in Szenarien der Zukunft. Haben Sie Fragen, Anregungen oder Kritik?

Wenden Sie sich gerne an Andreas Rathgeb über LinkedIn oder schreiben Sie eine Mail an mailto:andreas.rathgeb@cgi.com. In der nächsten Folge widmen wir uns dem Handwerkszeug von Digitalisierung, nämlich Herangehensweisen, Methoden und Strategien, die es dafür braucht. Die Runde von Andreas und Tobias wird dabei durch Insights des Experten Dirk Kiefer erweitert, der uns vier Dimensionen für erfolgreiche Digitalisierungsstrategie vorstellt. Über diese diskutieren Andreas und Tobias im Anschluss.