In Estland sind analoge und digitale Unterschriften gleichwertig. Die digitale Identität ist die Voraussetzung für digitale Wahlen und Steuererklärungen. In der letzten Folge dieser Staffel unseres Podcasts „Building a Digital Nation“ diskutieren Andreas Rathgeb, Senior Vice President Consulting Services & Industry Lead Public Sector Deutschland von CGI, und Tobias Koch, langjähriger Director Consulting Services von CGI in Estland, wie Deutschland künftig zum Vorreiter der Digitalisierung werden kann – und sich dann andere Länder von uns etwas abschauen können. Moderiert wird die Folge von Aline-Florence Buttkereit.

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Hier folgt ein Transkript der siebten Folge des Podcasts „Building a Digital Nation“: 

Herzlich Willkommen zum Podcast „Building a Digital Nation. Insights für Bund, Länder und Kommunen“. Wir besprechen hier Themen rund um Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Uns interessieren Antworten zu Technologien, Menschen und Methoden. Wo steht Deutschland mit der Digitalisierung? Wieso ist Estland schon weiter? Wen und was braucht ein digitaler Staat in der Zukunft und wie können beide Nationen voneinander lernen?

Führungskräfte können nur so erfolgreich etwas bewegen, wie es die entsprechende Digitalstrategie dahinter auch zulässt. Würden Sie dieser Aussage zustimmen oder nicht? Was es als Politiker und Politikerinnen sowie als entsprechende Führungskraft in entscheidenden Positionen für Qualitäten braucht, um die Digitalstrategie umzusetzen, darum geht es in dieser Folge. Andreas stellt außerdem sieben Prinzipien vor, die es eben auch braucht, um in Deutschland eine Digitalstrategie aus den Köpfen auf die Straße zu bekommen. Wir sind damit bei der letzten Folge der ersten Staffel unseres Podcasts „Building a Digital Nation“ angekommen.

Tobias, „building“ im Sinne von bauen, konstruieren oder auch erstellen in unserem Titel lässt ja noch so ein bisschen offen, wer denn nun eigentlich der Antreiber oder die Antreiberin ist und wer in die Umsetzung geht beim Aufbau einer digitalen Nation. Wir haben schon verschiedene Themen beleuchtet. Worauf wir noch nicht so viel eingegangen sind, ist, welche Rolle denn Politikerinnen und Politiker zum Beispiel in Estland dabei gespielt haben, eine digitale Nation aufzubauen?

Tobias Koch: Ja, ich glaube, es ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema, dass wir das auch noch mal mitnehmen, denn Politikerinnen und Politiker tragen noch die eine oder andere Verantwortung, um diesen Wandel voranzutreiben. In Estland ist es tatsächlich so, dass die erste Generation der Politiker und Politikerinnen nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit eine unheimlich große Rolle gespielt hat. Wir sprechen über die frühen 90er Jahre. Der erste Premierminister war gerade mal, glaube ich, 32, als er Premierminister wurde. Der hatte viele Leute um sich herum, die digitalaffin, IT-affin oder computeraffin waren, um das in den damaligen Termini auszudrücken. Und da wurde damals schon ein Informatikrat gegründet, der den Premierminister in IT-Fragen beraten hat. Und so hat der erste Premierminister viel vorangetrieben. Man spricht auch heute noch mit ihm viel über die damaligen Zeiten, wie das so alles vorging. Und so ging das eine Generation nach der nächsten mit verschiedenen Premierministern, die große Verantwortung getragen haben und sich das immer wieder auf die Fahnen geschrieben haben. Bis heute ist es so. Die derzeitige Premierministerin ist insbesondere, glaube ich, im Bereich Krisenresilienz eine sehr aktive Vorkämpferin. Estlands ehemalige Präsidentin ist damit auch sehr aktiv in Erscheinung getreten und war zudem auch eine Beraterin vom ersten Premierminister. Da gibt es viele Persönlichkeiten, die alle Spannendes zu erzählen haben. Aber um vielleicht auch zu verdeutlichen, dass es nicht nur einzelne Führungspersonen waren, sondern dass es auch gesellschaftlich einen großen Widerhall fand: Anfang der 90er Jahre hat das estnische Parlament eine Erklärung verabschiedet, eine Erklärung über die Erlangung des Status einer estnischen Informationsgesellschaft. Das war gerade sehr frei übersetzt. Aber es geht darum, dass tatsächlich eine Mehrheit des Parlamentes in den frühen 90er Jahren, ich glaube, es war 1994, gesagt hat, Estland will eine Informationsgesellschaft werden. Und das sagt, glaube ich, sehr viel aus. Wir sprechen über die frühen 90er Jahre. Man hat ein Bewusstsein dafür gehabt, dass das das ist, womit man einen Unterschied machen kann, was man für sich selber zum Vorteil gewinnen kann. Und darauf führt, glaube ich, viel zurück. Und das kann man Parlamentariern zuschreiben, das kann man Gesellschaftsakteuren zuschreiben, kann man Premierministerinnen und Premierministern zuschreiben.

Andreas, wie digital ist denn das politische Mindset in Deutschland?

Andreas Rathgeb: Ich glaube, mit dieser 1994-Story kann man in Deutschland nicht dienen. Also mir wäre es nicht bewusst in der Art und Weise. Aber wir sehen tatsächlich in allen Parteien Akteure, die sich massiv für die Digitalisierung des Landes ihrer jeweiligen Kommunen und Bundesländer einsetzen. Und das zeigt sich speziell auch an einzelnen Personen, Leuchtfiguren. Ich will da gar keine Namen nennen, aber jede Partei hat solche Leuchtfiguren hervorgebracht. Vorbilder, die dieses Leadership dann auch gezeigt haben. Es ist im Politischen ein bisschen anders wie beim Führen eines Unternehmens, aber umso wichtiger, weil das Mitnehmen der Breite der Gesellschaft, aller in der Gesellschaft, eben eine politische Herausforderung ist. Und die wurde angepackt und die wird angepackt. Im Konkreten geht es dann auch darum, einzelne Erfolgsgeschichten zu produzieren. Die einzelnen Erfolgsgeschichten sehen wir. Das sind dann positive Geschichten. Und diese positiven Geschichten zu erzählen, auch über Medien hinweg, das ist wiederum eine Herausforderung. Da wirken wir als CGI auch mit. Das sehe ich auch als meine Rolle dabei, eben positive Beispiele zu zeigen und das Interagieren auch zu ermöglichen.

Tobias, Du hast fünf Jahre die Entwicklung Estlands zu einer digitalen Nation miterlebt und zum Teil sogar auch mitgestaltet. Da haben wir in den vergangenen Folgen auch eine ganze Menge gehört. Was waren hier aus deiner Sicht entscheidende Momente in der estnischen Politik?

Tobias Koch: Da muss ich ein bisschen weiter zurückgehen als die fünf Jahre. Das geht über meinen Zeithorizont hier in Estland ein bisschen hinaus. Also ich hatte ein Dokument ja schon erwähnt, was, glaube ich, so ein wichtiger Schlüsselpunkt war, dass man sich 1994 darauf geeinigt hatte, eine Informationsgesellschaft zu werden. Die nächsten Entwicklungsschritte, die man hervorheben muss, sind letztendlich, dass es ein Pilotprojekt dieser X-Road gab. Niemand wusste Ende der 90er und Anfang der 2000er, was das genau wird. Aber man hat mit der Wissenschaft sehr eng zusammengearbeitet und herausgearbeitet, was so eine Peer-to-Peer-Datenaustauschplattform können müsste und hat das dann auch sehr schnell in die Tat umgesetzt. Also das ist ein Schlüsselschritt. Dann natürlich ebenfalls die Einführung der elektronischen Identität. Das war 2002 und da ist es unheimlich wichtig zu betonen, dass es da nicht nur eine öffentliche Initiative war, sondern dass man da sehr stark mit der Privatwirtschaft zusammengearbeitet hat. Die Banken waren tatsächlich eher die, die gesagt haben: Macht mal so was, wir brauchen eine sichere Authentifizierung für unsere Kunden im Internet. Wir wollen das nicht alles selber machen, sondern wir brauchen einen Standard. Und da hat man sich eben mit der Bankenwirtschaft und Telekommunikationswirtschaft zusammengeschlossen und das ist auch bis heute ein ähnliches Konsortium, sodass diese elektronische Identität eingeführt wurde und da ihren Anfang gefunden hat.

Kannst du mit ein paar Sätzen sagen, was die elektronische Identität ausmacht?

Tobias Koch: Die elektronische Identität bedeutet tatsächlich einfach, dass jede Person, die in Estland geboren wird beziehungsweise wohnhaft wird, eine estnische persönliche Kennziffer bekommt. Also zum Beispiel habe ich als deutscher Staatsbürger eine estnische persönliche Kennziffer und mein Sohn als gebürtiger Este hat eine persönliche Kennziffer. Das ist eine elfstellige Zahl und das ist letztendlich meine digitale Identität. Mithilfe der elektronischen Identität, also der Chipkarte, kann ich mich eben online ausweisen, indem ich diesen öffentlichen Schlüssel mit einem privaten Schlüssel bestätige und mich also mit zwei Faktoren über eine PKI-Authentifizierung im Internet ausweisen kann. Aber nicht nur im Internet ausweisen, das ist ein entscheidender Unterschied auch zu Deutschland, sondern in der Verbreitung ist das ein Standard, mit dem man eben auch digital unterschreiben kann. Das heißt, dass ich eben digital Unterschriften unter Verträge setzen kann. Arbeitsverträge, Mietverträge, Kaufverträge, alles, was geht, alles digital signiert ist ein unheimlich wichtiger Faktor für die estnische Wirtschaft. Es geht alles natürlich schneller. Und damals, als die elektronische Identität eingeführt wurde, wurde auch die digitale Unterschrift als die der Papierunterschrift gleichwertig hochgestuft. Das heißt, ob du nun auf Papier oder digital unterschreibst, das bedeutet das Gleiche und ist rechtswirksam. Das ist ein unheimlicher Boost gewesen. Heute ist es selbstverständlich, dass man digital unterschreibt. Die elektronische Identität ist die Voraussetzung dafür, dass ich ja über das Internet wählen kann, Unternehmen gründen kann, Steuern zahlen, meine Steuern erkläre und all diese ganzen Dinge, die man machen kann.

Also quasi wie so ein Kern der digitalen Nation, wenn man so will.

Tobias Koch: Definitiv. Im Zusammenwirken mit eben dieser Interoperabilitätsplattform, also der X-Road. Nur um ein Dokument noch zu erwähnen, wir hatten kurz schon mal darüber gesprochen, dieses Once-Only-Prinzip, die Veränderung des öffentlichen Informationsgesetzes im Jahr 2011, das staatliche Datenbanken Daten nur einmal erheben dürfen, und wenn sie Zugriff auf Daten brauchen, dann müssen sie die an der entsprechenden Stelle abfragen und nicht den Bürger fragen. Diese Einführung im Jahr 2011 war so ein weiterer Schlüsselmoment.

Wie ist Estland denn diese politische, digitale Aufbauarbeit zu einer digitalen Nation angegangen?

Tobias Koch: Ja, das ist immer eine gute Frage, womit es irgendwie angefangen hat. Also es lässt sich tatsächlich auf viele Personen zurückführen. Es lässt sich auf den Schwerpunkt zurückführen, dass man in den 90ern noch viel versucht hat, dementsprechend zu bilden, also die nächste Generation vor die Computer zu bringen und denen das entsprechende Handwerkszeug schon in die Hand zu geben. Da gab es früher Ziele, dass jede Schule, jede Bibliothek auch auf dem Land mit Computern und mit Internet ausgestattet wird. Ich finde es immer noch lustig, wie teilweise in Estland irgendwo in der Pampa auf Straßenschildern P für Parken steht und unter P steht dann WiFi. Heute wirkt das auch schon wieder so ein bisschen aus der Zeit gefallen. Da sprechen wir schon über die frühen 2000er. Aber es gab wirklich einen intensiven oder überzeugten Versuch, überall den Menschen das Internet an die Hand zu geben. Und das ist etwas, wofür Politikerinnen und Politiker Sensibilität geschaffen haben. Das Internet war in den Neunzigern für alle neu. Computer waren für alle noch neu, und das war etwas, wo Estland gleichziehen konnte und einfach vorweggehen konnte.

Gab es denn auch so was wie eine langfristige Digitalstrategie oder ist man da relativ schnell in verschiedene Felder auch wieder reingegangen und hat, wie mit dem Parkplatz, den du gerade sozusagen erwähnt hast, gesagt, das probieren wir jetzt mal aus. Oder gab es schon auch erst diesen Ansatz: eine langfristige Strategie zu entwickeln. Was wollen wir wo bewirken?

Tobias Koch: Es gab erst mal diese überzeugte Stellungnahme, dass wir digital werden wollen und dann hat sich auch mit der Zeit etabliert, dass es so diese Fünf-Jahres-Agenda gab, was in der Zeit gemacht wird. Das heißt, alle paar Jahre wird diese Digitalagenda oder die Agenda der estnischen Informationsgesellschaft aktualisiert. Da sieht man dann die Ziele für die nächste Zeit, sodass heute in Estland die derzeitige Strategie einen Schwerpunkt auf die Einführung von virtuellen KI-gestützten Assistenten, Bürgerservices noch näher an die Bürger heranzubringen und noch mehr proaktive Dienstleistungen hat. Es gibt die ersten proaktiven Dienstleistungen in Estland. Davon soll noch mehr kommen. Es soll mehr auf Daten gestützt werden und diese aktuelle Strategie hat auch einen Schwerpunkt auf der Nachhaltigkeit von Ressourcennutzung.

Andreas, schauen wir auch noch mal nach Deutschland. Was sind da denn die wichtigsten Prinzipien, um eine langfristige Strategie in Deutschland auf die Straße zu bringen?

Andreas Rathgeb: Ich sehe sieben Punkte. Ein paar haben wir jetzt auch schon gehört. Aber vielleicht noch mal prägnant. Plattformen und Plattformökonomie, also die Prinzipien der Plattformökonomie, es sind eben viele Nutzer. Jeder weitere Nutzer sorgt dafür, dass im Sinne von Netzwerkeffekten viel mehr Nutzen gestiftet wird für alle Beteiligten. In dem Zusammenhang, das „Einer für Alle“-Prinzip oder das Once-Only-Prinzip. Das heißt Akteure, die auf dem gleichen Level unterwegs sind, vielleicht in einem anderen Gebiet, aber Verantwortung tragen, eben im Rahmen unseres föderalen Systems, arbeiten zusammen, lösen ein Problem einmal und ermöglichen dann einen größeren Nutzen für alle. Ein dritter Aspekt ist natürlich die Agilität. Da haben wir in ein paar Folgen immer wieder ein bisschen reingespürt, was das bedeutet für das Umsetzen von Vorhaben und von Projekten. Dann die souveräne Cloud. Die Cloud, die jetzt in den nächsten Monaten ganz sicherlich den entscheidenden Boost bringen wird für schnelles Umsetzen von Lösungen und die es sicherlich schaffen wird, den einen oder anderen Knoten technologisch zu durchschlagen.

Wenn man zu dem Knoten noch ein bisschen mehr Infos haben möchte, da haben wir auch eine eigene Folge dazu.

Andreas Rathgeb: Ganz genau. Der fünfte Aspekt sind die neuen Technologien und KI. Das würde ich zusammen sehen. Das heißt einfach, immer schon einen Ticken weiterdenken. Es endet nicht mit der Stufe, die wir jetzt erreichen, sondern das ist immer die Stufe, um darüber die nächste Stufe in der Digitalisierung zu erreichen. Ein weiteres Prinzip ist Mobile First. Das leitet uns dazu, dass wir einfach näher an die Bürgerinnen und Bürger, näher an die Unternehmen drankommen und Dienste schaffen, die wirklich auch zügig angenommen werden und in die Lebenswirklichkeit passen. Vielleicht als letztes siebtes Prinzip sollte man an Geschäftsmodelle im Sinne von digitalen Geschäftsmodellen denken, auch wenn es um die öffentliche Hand geht, weil das, was wir auf der Seite der Prozesse, in der öffentlichen Hand und auf der öffentlichen Seite machen, immer auch einem weit erweiterten Ökosystem hilft, dort wieder anzudocken. In dem Zusammenhang sehen wir natürlich auch die Datenökonomie dahinter, die wir damit stärken und eben damit auch zu einer digitalen Nation werden, gleich hinter Estland oder irgendwann davor.

Bezogen auf welche Prinzipien steht Deutschland denn schon gut da und wo braucht Deutschland vielleicht noch ein bisschen Anschub?

Andreas Rathgeb: Die Wahrnehmung ist in jedem Fall so, dass die Aspekte der Digitalisierung jetzt in aller Munde sind. Das heißt, es gibt viele Vorhaben und die sind auf breiter Fläche gestartet. Das heißt an der Stelle, es gibt Gelder dafür und es gibt Aufmerksamkeit dafür. Das heißt, der Aspekt ist sicherlich abgedeckt. Das heißt, wir sind diesbezüglich erst mal gut ausgestattet. Wo könnte man noch das Augenmerk darauf lenken und wo könnte man noch verstärkend wirken? Das ist genau an der Stelle, an der wir besondere Erfolge feiern. Das passiert mir viel zu wenig. Besondere Erfolge feiern heißt, wir sind stolz darauf, dass jetzt dieses oder jenes funktioniert und erzählen das auch nach draußen. Das können wir von Estland lernen. Die tun das, die gehen damit öffentlich. Die sagen der ganzen Welt, was sie erreicht haben. Diese Leuchttürme, die wir nach draußen erzählen können, brauchen wir auch. Aspekte könnten sein, eine erste Datenökonomie, die wir dann vielleicht verknüpfen mit Daten, die die öffentliche Hand hat in Verbindung mit Daten, die dann die Wirtschaft unmittelbar nutzen kann. Da kann der Gaia-X-Standard uns helfen. Da können Themen, die aus dem Kontext Nachhaltigkeit, Carbon footprint und Global warming kommen, uns helfen. Das sind Dinge, da sucht die ganze Welt nach Lösungen. Und das kann uns eben in die Lage versetzen, hier in Deutschland, dass wir die alten Stärken, die wir haben, in Form von Ingenieurskunst und ähnlichem, verbinden können und Erfindertum verbinden können mit dem digitalen Erfindungsreichtum und daraus dann nochmals mehr machen, mehr gestalten und eben sichtbar machen. Und wie gesagt, können wir zu guter Letzt diese Erfolge auch feiern und positiv sehen. 

Tobias Koch: Darf ich da kurz noch etwas anschließen? Denn es ist auch immer wieder zu berücksichtigen, ich glaube, das sollte man ruhig sagen, dass Estland sich in den frühen Neunzigern auch sehr stark umgeguckt hat. Also wo können wir was herholen, wie bauen wir unser Staatswesen auf und die Gesetzgebung, Gesetzestexte etc. Und man hat sich in Estland tatsächlich auch sehr stark am deutschen Rechtsraum orientiert und hat da viel Inspiration bekommen. Ich hatte vorher schon mal in der Folge erwähnt, dass Estland seinen eigenen IT-Grundschutz hat, also einen eigenen Standard hat. Dieser IT-Grundschutz kommt nicht von ungefähr. Der ist stark orientiert am BSI-Grundschutz. Das heißt, Estland hat da auch viel von Deutschland mitgenommen. Und was Estland jetzt erreicht hat, ist für Estland auch Branding des Digitalen. Das ist für Estland so ein bisschen wie das Made in Germany in Deutschland. Es ist halt ein Status und ein Qualitätskriterium.

Andreas, du hast gerade noch mal herausgestellt, dass Deutschland, was ja vielleicht auch so eine generelle Haltungsfrage von uns Deutschen ist, gerne auch mal ein bisschen mehr darauf stolz sein darf, was es auch schon geleistet hat, wo es steht. Und Du wiederum, Tobias, hast auch noch mal hervorgehoben, dass dieses ganze Thema Digitalisierung für Estland wirklich so ein Status ist, ähnlich wie dieses Made in Germany. Um aber auch so eine Kommunikation nach außen zu bringen, brauchen wir ja Kommunikatoren. Das heißt, wir brauchen auch auf politischer Ebene Entscheider, die das Rückgrat haben, die sich auch hinstellen und das nach vorne tragen. Deutschland hat die auch. Deutschland darf da vielleicht, wie gesagt, noch stärker werden, das dann auch entsprechend zu kommunizieren. Estland hat aber auch jemanden, der sehr bekannt ist, auch über Estland hinaus, eben weil er da beim Thema Digitalisierung so nach vorne gegangen ist. Und ich freue mich sehr, dass wir an dieser Stelle Siim Sikkut ankündigen dürfen. Er war bis Januar 2022 noch im Amt des CIOs von Estland und hat hier zehn Jahre lang Digitalisierung maßgeblich nach vorne gebracht.

Siim Sikkut: Zunächst einmal danke ich ihnen, dass ich hier sein darf. Mein Hintergrund ist, dass ich ein ehemaliger Beamter bin. Ich war einige Jahre lang in der Regierung tätig, die letzten fünf davon als Chief Information Officer. Die Rolle des Regierungs-CIO ist von Land zu Land etwas unterschiedlich. In Estland haben wir eine eher dezentralisierte Regierung, was bedeutet, dass jedes Ministerium ein digitales Ministerium in seinem Bereich ist. So ist der Sozialminister auch so etwas wie das IT-Ministerium für alles, was mit Gesundheit zu tun hat. Sie müssen also herausfinden, was sie zum Beispiel mit digitaler Gesundheit machen wollen. Das bedeutet, dass die Aufgabe des CIO der Regierung wirklich eine Koordinationsaufgabe ist, die sicherstellt, dass ein Plan für die gesamte Regierung erstellt wird, was die nächsten Schritte und die nächsten Stufen sind, um dann dafür zu sorgen, dass alle dorthin gelangen und dass der Plan befolgt und umgesetzt wird. Wir bauen keine Sachen mit unseren eigenen Teams. Im Grunde geht es darum, Unternehmen zu ermutigen und andere dazu zu bringen, mit verschiedenen Anreizen und Mechanismen und sie wissen schon, mit Zuckerbrot und Peitsche. Also ist es am Ende des Tages wirklich eine Menge Gerede. Ich würde es gerne so ausdrücken, dass man die Richtung vorgibt, den Weg vorgibt und dann sicherstellt, dass die Regierung genau diesen Weg geht und den Regierungsapparat aufbaut, um sicherzustellen, dass die Transformation in der strategischen Richtung stattfindet.

Siim hat in seiner Zeit als CIO nicht nur selbst jede Menge Erfahrungen gesammelt. Bevor er seine Amtszeit beendete, hat er Kollegen und andere Führungskräfte aus seinem Umfeld um ihre Tipps gebeten und dies in einem Buch festgehalten. Ein paar davon teilt er hier auch mit uns.

Siim Sikkut: Letztes Jahr, bevor ich aus dem Amt schied, habe ich mit etwa 20 meiner ehemaligen Kollegen gesprochen. Die Leute haben bemerkenswerte Erfolge in Technologieländern erzielt. Daraus ist ein Buch entstanden, das ich veröffentlicht habe und das den Titel Digital Government Exzellenz trägt. Die Pointe ist, dass ein immer wiederkehrendes Thema all dieser großen Führungspersönlichkeiten in diesem Bereich darin besteht, dass man seine Zeit und Energie in den Aufbau und das Management des Netzwerks um einen herum investiert, um diese Interessensgruppen zu managen. Man muss sicherstellen, dass man auf derselben Seite steht, dass man von ihnen unterstützt wird und ihnen hilft, ihre Ziele zu erreichen. Denn schließlich baut man die Dienste nicht von oben nach unten auf. Letztendlich gibt es selbst in den meisten Top-down-Umgebungen eine Menge Akteure. Man muss also dafür sorgen, dass die Mitarbeiter die Vision teilen, dass sie die Leistungen erbringen können und dass sie über die entsprechenden Instrumente und Fähigkeit verfügen. Das ist ein wichtiger Teil davon. Und ich meine, vieles davon ist ganz einfach. Viele Treffen, viele Besprechungen, viele gesellschaftliche Zusammenkünfte. Für die einen könnte es zum Beispiel bedeuten, dass sie viel zu Mittag essen. Es könnte aber auch bedeuten, dass sie viele Partys feiern. Es könnte bedeuten, dass man ab und zu in die Sauna geht. Die Art und Weise, wie man das macht, ist also von Land zu Land unterschiedlich. Ich schätze, in Deutschland kann es ab und zu ein gutes Oktoberfest sein. Aber was auch immer ihre Art und Weise ist, die Zeiten und Räume zu schaffen, um Menschen zusammenzubringen und sich mit ihnen auszurichten, das ist es, was es braucht.

Das war nur ein kurzer Ausschnitt aus dem Interview mit Siim Sikkut. Das gesamte Interview im O-Ton können sie in einer Bonusfolge (Folge 8) auf allen gängigen Podcast-Plattformen hören. Jetzt haben wir gerade von Siim Sikkut einen kleinen Einblick bekommen, wie man auch aus Leadership-Perspektive eine ganze Menge anschieben kann. Was brauchen aus eurer Sicht Politiker für Qualitäten, um eine langfristige Digitalisierungsstrategie in eine Umsetzung zu bringen?

Andreas Rathgeb: Ganz sicherlich ist es eine Offenheit für moderne Technologien, eine Offenheit für Veränderung. Das müssen die auch in der Kommunikation ausstrahlen, aber auch darauf setzen, immer wieder zu erklären, was gerade passiert. Das heißt zum einen nach vorne denken, zum anderen erklären und die Menschen mitnehmen.

Tobias Koch: Ich denke, bei Politikern und Politikerinnen ist wichtig, dass sie ein Verständnis für diese Thematik haben, also es tatsächlich um eine Transformation geht. Es geht nicht darum, irgendwie etwas im Digitalen zu reproduzieren, sondern es gibt eine Notwendigkeit, einen Effizienzgewinn zu bekommen, Ressourcen bündeln zu können und somit auch Mehrwert zu schaffen in vielerlei Hinsicht. Nicht nur materiell, finanziell, sondern eben auch von der Wertschöpfung her für den Bürger und die Bürgerinnen hinter dem Computer, neue Services etc. Darüber haben wir gesprochen. Das ist wichtig. Aber ich denke, was auch wichtig ist, ist so eine Überzeugung und auch Durchhaltekraft. Denn wir wissen: Digitalisierungsprojekte brauchen langen Atem und brauchen überzeugte Kräfte, die die voranbringen. Aber natürlich auch nur so weit, bis man halt versteht, dass irgendwann auch etwas gescheitert ist. Also das ist halt so eine ganz feine Klinge letztendlich, auf der man sich da bewegt. Aber es ist halt letztendlich auch so wichtig, das zu verstehen, dass man so ein Projekt gestalten kann und dass man sich da vielleicht mit identifiziert und das überzeugt voranbringt. 

Andreas Rathgeb: Was sie auf jeden Fall nicht brauchen, und das ist der Tipp, den ich einem jeden gebe, ist, dass man das Digitale als separate Dimension, als etwas Abgetrenntes vom Analogen sozusagen abtut. Es ist ein Leben, das man hat. Man erlebt dieses im Digitalen und im Analogen. Wenn dieses Verständnis da ist, ist schon ganz, ganz viel erreicht. Wenn das in der Kommunikation so rüberkommt, ist schon ganz, ganz viel erreicht. Und so nehmen wir die Gesellschaft viel, viel leichter auch mit.

Wir haben jetzt sieben Folgen unseres Podcasts „Building a Digital Nation“ gehört. Wir haben eine ganze Menge gelernt. Wir haben uns super viele Themen angeschaut. Wenn eine Fee über Nacht kommen würde und ihr hättet genau einen Wunsch frei, was würde sich am nächsten Tag ändern?

Tobias Koch: Also ich würde sagen, ich würde mich freuen, wenn wir alle mit Selbstbewusstsein und selbstbestimmt in diesen digitalen Wandel gehen und diesen fortführen. 

Andreas Rathgeb: Ich glaube, ich würde mich freuen, wenn wir eine zweite Staffel machen würden. Weil wenn ich jetzt zurückdenke, was wir alles nicht angesprochen haben, wir haben nicht über Security im Cyberraum gesprochen, wir haben nicht über Innere Sicherheit, Äußere Sicherheit und die Verbindung von beidem, dass man das nur noch gemeinsam sehen kann, gesprochen und vieles, vieles weiteres wie Krypto im Kontext Währung und Ähnliches. Ich glaube, da ist noch ganz, ganz viel unbearbeitet geblieben und unbesprochen geblieben. Ich würde mir die zweite Staffel wünschen. 

Das war's mit den offiziellen Folgen der ersten Staffel „Building a Digital Nation“. Wir hoffen, dass wir ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ein paar neue Perspektiven eröffnen konnten und vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle neue Erkenntnisse geliefert haben, sie vielleicht neugierig gemacht haben oder auch das ein oder andere Lachen entlocken konnten. Wer jetzt noch nicht genug hat und vor allem noch mal intensiver in die Perspektive Estlands eintauchen möchte, dem empfehle ich noch, in die Bonusfolge Nummer 8 hineinzuhören. Diese ist auf Englisch und enthält das komplette Interview mit Estlands ehemaligem CIO Siim Sikkut. 

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