Von Estland lernen heißt, lernen wie man die Digitalisierung richtig und bürgerfreundlich umsetzt. In unserem neuen Podcast „Building a Digital Nation. Insights für Bund, Länder und Kommunen“ sprechen Andreas Rathgeb, Senior Vice President Consulting Services & Industry Lead Public Sector Deutschland von CGI, und Tobias Koch, langjähriger Director Consulting Services von CGI in Estland, darüber, warum es dafür Experimentierfreude braucht, das Design in Deutschland unterschätzt wird und weshalb auf estnischen Personalausweisen längst keine Adresse mehr steht. Moderiert wird die Folge von Aline-Florence Buttkereit.

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In diesem Podcast besprechen wir Themen rund um Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Uns interessieren Antworten zu Technologien, Menschen und Methoden. Wo steht Deutschland mit der Digitalisierung? Wieso ist Estland schon weiter? Wen und was braucht ein digitaler Staat in der Zukunft und wie können beide Nationen voneinander lernen? 

Und bevor es hier richtig inhaltlich losgeht mit dem neuen Podcast Building Digital Nation gebe ich Ihnen zu Beginn jeder Folge immer einen kleinen Ausblick, was Sie erwarten wird. Wir diskutieren ja in sieben Folgen über die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in Estland und in Deutschland. In der ersten Folge spreche ich mit Andreas und Tobias darüber, warum sich ein Blick auf die Republik im Baltikum lohnt, die mit 1,3 Millionen Einwohnern etwas kleiner als die bayerische Landeshauptstadt München ist. Außerdem sprechen wir darüber, warum in Estland keine Adresse auf dem Personalausweis aufgedruckt ist und warum es anachronistisch erscheint, dass man sein Auto in einer Kfz-Zulassungsstelle anmelden muss. 

Andreas, der Public Sector, also der öffentliche Bereich, ist jetzt ehrlicherweise nicht das Erste, woran ich denke, wenn es um Digitalisierung geht. Du beschäftigst dich aber schon seit zehn Jahren damit. Was ist denn so spannend an der Digitalisierung in diesem Sektor?

Andreas Rathgeb: Tatsächlich bin ich schon lange mit dem Thema und in dieser Branche unterwegs. Zunächst ist spannend, dass es uns alle angeht. Wir leben alle in irgendeiner Community, in irgendeiner Gemeinschaft, und wir regen uns über bestimmte Dinge auf, die sich vielleicht im Gemeinwesen ändern sollten. Wir halten uns an Straßenverkehrsregeln. Das sind gemeinsam abgestimmte Regeln. Wir freuen uns darauf, wenn diese auch ab und zu mal kontrolliert werden, und insofern ist es genau das, was uns tatsächlich alle angeht. Ich glaube, da sind alle auch gespannt darauf, wenn sich hier noch sehr viel tun wird in der nächsten Zeit oder sich schon an manchen Stellen getan hat, also dass es schlicht und ergreifend auch in dem Bereich digitaler wird.

Wenn man sich mit schwierigen Themen beschäftigt, ist es oft hilfreich, sich Inspirationen zu holen und zu gucken, ob es Beispiele gibt, wo schon mal jemand Erfolg hatte. Du schaust da gerne nach Estland. Wieso denn gerade dorthin?

Andreas Rathgeb: Mein erster Berührungspunkt mit Estland war tatsächlich eine Urlaubsreise, wo ich in Tallinn sein durfte. Das ist schon ein paar Jahre her, und ich habe dort tatsächlich sehr freundliche Menschen erlebt. Alles hat aber auch sehr digital ineinander gepasst. Es war klar, dass man digital bezahlen kann. Solche Dinge waren sofort für mich sichtbar. 
Aber faszinierend an Estland finde ich die Größe. Das Land ist um Welten kleiner als Deutschland, und insofern ist es in gewisser Weise, aus meiner Perspektive, so etwas wie ein Reallabor. Da kann man reingucken, Estland hat schon ein paar Experimente gemacht, die Esten funktionieren irgendwie auch und die können das ganz toll auch erzählen, die sind stolz darauf. Das steckt eigentlich dahinter, weshalb ich gerne nach Estland schaue.

Tobias, du hast fünf Jahre den Public Sektor in Estland beratend begleitet. Was hat denn die digitale Verwaltung Estlands alles zu bieten?

Tobias Koch: Unheimlich viel, wovon die Bürgerinnen und Bürger im Alltag einen großen Nutzen haben. Ich glaube, so maßgeblich für alles, was es in Estland digital gibt, ist, dass es eine verpflichtende digitale Identität für jeden einzelnen Staatsbürger und einzelne Staatsbürgerin gibt. Mithilfe dieser digitalen Identität habe ich Zugang sowohl zu öffentlichen als auch zu privaten Dienstleistungen. Das sorgt dafür, dass die Digitalisierung in jedem Teil der Gesellschaft letztendlich ankommt. Um konkrete Beispiele zu nennen: Ein Unternehmen kann in wenigen Minuten online gegründet werden. Ich habe das vor kurzem selber durchgemacht. Das geht tatsächlich reibungslos digital. Ich kann ein Bankkonto mithilfe der elektronischen Identität einfach gründen. Ich kann online wählen: sowohl bei den Parlamentswahlen als auch den Kommunalwahlen. Das habe ich auch alles schon ausprobiert als europäischer Bürger. Letztendlich sagt man, dass 99 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen in Estland tatsächlich digital verfügbar sind. Also es gibt wirklich durch die Gesellschaft hinweg sehr viele Beispiele. Die Gesellschaft ist durchsetzt von digitalen Dienstleistungen und Hilfeleistungen.

Das ist ganz schön beeindruckend. Wieso funktioniert das Vorankommen in Sachen Digitalisierung in Estland so anders, Tobias?

Tobias Koch: Ich würde da ganz gerne das aufgreifen, was Andreas gesagt hat. Andreas hat von einem Reallabor gesprochen. Die Esten allgemein experimentieren gerne. Sie haben das auch schon im Bereich Start-ups, Unternehmensgründung und so weiter mehrmals öffentlich betont, dass ein Geschäftsmodell nur auf Estland fokussiert kaum funktionieren würde, sondern dass man allgemein globale Nutzer ansprechen muss, um tatsächlich ein ertragreiches Geschäftsmodell aufzubauen. Und so versteht man sich so ein bisschen auch selber als experimentierfreudiges Reallabor in vielerlei Hinsicht. Das heißt, man hat so eine gewisse Experimentierfreude tatsächlich in der öffentlichen Hand beziehungsweise auf der höchsten politischen Ebene auch. Aber letztendlich spielt es natürlich auch eine ganz große Rolle, dass Estland, als es seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat, letztendlich die spannende Aufgabe hatte, ein funktionierendes, effizientes Staatswesen aufzubauen. Da sind viele Menschen mit einer unheimlichen Lust und Begeisterungsfähigkeit vorangegangen. Sie haben die Digitalisierung hoch auf die politische Agenda gesetzt. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Voraussetzung, die aber auch nach wie vor eine große Bedeutung hat. Also heute spielt Digitalisierung eine so große Rolle. Das heißt, man kann sich Estland gar nicht mehr anders vorstellen als so, wie es jetzt ist. Das heißt, es ist fest verankert, es ist Teil des Alltags von Bürgerinnen und Bürgern, aber auch der Verwaltung.

Das heißt, diese Grundvoraussetzungen, noch mal neu starten zu können, war in Estland einfach gegeben. Das ist natürlich bei uns in Deutschland ein anderer Fall. Andreas, wenn man bei uns in Deutschland im Vergleich zu Estland die Digitalisierung im Public Sektor anguckt, haben wir jetzt verstanden, dass die Esten sehr experimentierfreudig sind. Was heißt Digitalisierung im Public Sector in Deutschland überhaupt? 

Andreas Rathgeb: Da muss man vielleicht als Erstes darauf schauen, dass wir verschiedene Ebenen haben. Wir haben die kommunale Ebene, wir haben die Ebene der Bundesländer und wir haben die Bundesebene, also ein föderales System hier in Deutschland. Die haben alle was zu sagen, die haben alle was zu regeln, die haben alle entsprechend Rechte und Pflichten. Und insofern haben wir sicherlich eine gewisse Komplexitätsstufe mehr als in Estland. Aber ich würde das Bild dort auch aufgreifen wollen. Wir unterhalten uns vielleicht heute abends im Kreis der Freunde und denken an Deutschland und an Digitalisierung, dass sehr viel nicht geht und Hinderungsgründe da sind. Andere sagen, in ein paar Jahren sprechen wir darüber, was das alles ermöglicht und welche Chancen da drinstecken. Genau daran arbeite ich selbst auch, und wir arbeiten dran, diese Chancen zu entdecken und das Zusammenspiel, die Lust daran, Neues auszuprobieren, zu Ende zu denken. Wie sieht man es ganz konkret? Da kann man vielleicht drei Stufen sehen: Die erste Stufe kann man sich ganz gut vorstellen. Standardmäßig würde ich vielleicht, um eine gewisse Dienstleistung von meiner Kommune zu bekommen, zu einem örtlichen Amt gehen und vielleicht einen Antrag einreichen. Vielleicht auch zu der Zulassungsbehörde auf Kreisebene, um ein Auto zuzulassen, ganz konkret. Man kann sich das Ganze natürlich ein bisschen digitaler vorstellen, und in der Stufe bewegen wir uns dann auch. Das ist sozusagen diese Stufe, dass wir den Gang zu der Zulassungsstelle einsparen und eben online das Ganze vorfinden, vielleicht schon auf dem Handy oder eben auf einem Rechner. Weil ich online den Service erreiche, habe ich aber noch lange nicht innerhalb der Behörde irgendetwas verändert. Und das wäre dann die zweite Dimension. Wie kann ich das in der Behörde verändern? An einzelnen Stellen sind wir auch hier dran, um diese Prozesse auch tatsächlich digitaler und auch effizienter ablaufen zu lassen. Estland musste das quasi schon von der Geburtsstunde an tun, seit der Unabhängigkeit. Das ist bei uns manchmal nicht so sehr im Fokus gewesen. Und die letzte Stufe würde ich vielleicht auch schon in dem Bild ergänzen wollen. Vielleicht ist es gar nicht so die richtige Ecke, dass ich mir immer noch vorstelle, ich würde jetzt zu einer Zulassungsstelle, zu einer digitalen Zulassungsstelle online im Internet gehen, sondern vielleicht müsste das eher so sein, dass es einen gewissen Vorfall gibt: der Kauf eines Autos zum Beispiel. Ich sage, an der Stelle müsste jetzt der Prozess greifen, dass ich dieses Auto zulasse und dann hat es gar nicht mehr so viel mit mir allein zu tun oder mit jemandem, der mir das quasi hier irgendwie genehmigt und ermöglicht, sondern vielleicht ist es ein Prozess, der zwischen mir, meinem Autohändler und dem Kreis entsprechend abläuft und vielleicht voll integriert und digital stattfindet. In die Richtung wollen wir arbeiten.

Total spannend. Das heißt auch aufgreifen, wo der Nutzer gerade ist oder die Nutzende und was man in dem Moment braucht. Und da eben auch diese Verwaltungstätigkeit hinbringen. An der Stelle frage ich mich jetzt allerdings auch, wie sehr das Thema digitale Verwaltung und auch das Voranschreiten oder eben auch das Ausbleiben digitaler Services bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland auffällt. Wie kommt das an? Dazu haben wir mit Maria Boger gesprochen. Sie ist 33 Jahre alt, lebt in München und bezeichnet sich selbst als digital affin. Von Maria wollten wir wissen, wie viel sie mit den derzeitigen digitalen Angeboten in der Verwaltung anfangen kann.

Maria Boger: Eigentlich relativ wenig. Ich finde, das ist auch immer sehr altbacken, bis man da irgendwie etwas gefunden hat, was man braucht, wie man es braucht und auch zu der Zeit, wo man das braucht. Für mich ist es relativ schlecht. Also ich denke daran, ich buche zum Beispiel alle meine Sportkurse easy über eine App oder ich habe zum Beispiel neulich ein Bankkonto eröffnet. Das hat mit so einem Online-Identifikationsverfahren gerade mal fünf Minuten gedauert. Und da frage ich mich, warum geht eigentlich so ein Bankkonto zu eröffnen so viel schneller als jetzt eine Adresse auf dem Perso zu ändern?

Gute Frage. Tobias, kann man in Estland genauso schnell die Adresse auf dem Ausweis ändern, wie ein Bankkonto online zu eröffnen?

Tobias Koch: Ja, in Estland muss man die Adresse auf dem Personalausweis gar nicht ändern. Und ich glaube, das ist das Spannende an dieser Digitalisierungssystematik. Digitalisierung bedeutet eben nicht das Abbilden von Prozessen in einer digitalen Art und Weise, sondern es bedeutet letztendlich, Prozesse effizienter zu gestalten. Das, was Andreas angesprochen hat, in der Verwaltung, im Backend sozusagen, letztendlich Veränderungen durchzuführen, damit die Prozesse nutzerfreundlich laufen. Insofern ist das ein unheimlich wichtiger Punkt, dass die Verwaltung an sich ein sich kontinuierlich veränderndes Konstrukt ist, das sich kontinuierlich mit den Nutzerbedürfnissen der Bürger und Bürgerinnen weiterentwickeln muss. Das bedeutet auch, dass nicht alles immer reibungslos läuft. Aber es setzt letztendlich auch voraus, dass man diesen Wandel mitdenken muss und Prozesse eine Fähigkeit haben sollten, kontinuierlich Prozesse letztlich zu verbessern.

Jetzt interessiert mich noch: Wieso muss man denn bei euch die Adresse auf dem Ausweis nicht ändern?

Tobias Koch: Ja, weil der Ausweis tatsächlich einfach nur eine Plastikkarte mit eben diesem Chip ist. Mithilfe dieses Chips kann ich mich online authentifizieren. Ich kann digital unterschreiben und meine Adresse ist auch dort, wo sie in Deutschland ist, beim Einwohnermeldeamt. Und wenn jemand meine Adresse benötigt, ob das jetzt die Steuerverwaltung oder ob es die Polizei ist, dann fragen sie nicht mich, sondern dann fragen sie eben die Behörde, die diese Information verwaltet. Das heißt, ich bin selber dafür verantwortlich, dass meine Information im Einwohnermeldeamt aktuell ist, logge mich dafür entsprechend online ein und ändere meine Adresse. Falls es Rückfragen gibt, dann beantworte ich diese Rückfragen, aber in der Regel ist es ein ziemlich einfacher Prozess und dann ist die Adresse da. Das Ganze sollte man auch sehen vor dem Hintergrund der Datensicherheit etc. Also warum muss meine Adresse auf dem Ausweis draufgeklebt sein? Damit dann der Finder irgendwie den Ausweis auch direkt zu mir nach Hause bringen kann? Oder wie ist das gemeint? Also das ist so eine Dimension, die man da mitdenken kann und die letztendlich digitale Technologien ermöglicht, dass Informationen auch nur von den Stellen angefragt werden, die sie benötigen.

Klingt aus User-Perspektive auf jeden Fall viel einfacher. Andreas, sind wir in Deutschland vielleicht einfach zu kompliziert?

Andreas Rathgeb: Wahrscheinlich ist es tatsächlich so. Aber es gibt einfach ein paar Gründe, auf die ich gerne eingehen würde, was bei uns komplizierter ist von der Ausgangslage her und weshalb es vielleicht so ein bisschen gedauert hat oder weshalb wir auch die eine oder andere Diskussion heute noch haben. Zum einen haben wir eben ein Staatswesen, das durch den Föderalismus geprägt ist. Das heißt, wir haben schon mal verschiedene Ebenen, die ineinander greifen und bei den Dienstleistungen, die sie tun und die vielfach eben in Gesetzen oder Richtlinien entsprechend hinterlegt sind, dabei über eine lange Zeit eingeübt haben, wie sie in der analogen Welt miteinander interagieren. Das muss jetzt quasi wieder neu ausgehandelt und neu erfunden werden für die digitale Welt. Dabei steht bei uns im Staatswesen das Thema Rechtssicherheit auf oberster Ebene. Das heißt, diese Rechtssicherheit, auf die wir uns ja alle auch dann gerne berufen, wo wir uns auch sehr wohlfühlen als Bürgerinnen und Bürger oder auch als Unternehmen hier im Land, dass wir eben da darauf setzen können. Wenn ein Bescheid ausgestellt ist, dann ist der wirklich auch so gültig. Dann ist es sehr, sehr unwahrscheinlich, dass hier ein Fehler passiert ist. Wenn er passiert ist, kann ich natürlich entsprechend einen Rechtsweg einlegen. Den Fokus hatten wir immer, den haben wir auch und den müssen wir irgendwie verbinden mit den neuen Zugängen, mit den neuen Prozessen und mit diesem neuen Zusammenspiel. Föderalismus, mehrere Ebenen und dann eben eine große Zahl an Behörden, die für bestimmte Bereiche zuständig sind und die eben traditionell, weil es eben gar nicht anders ging, in ihren Registern und in ihren Datentöpfen für ihren Bereich denken und eigentlich nicht übergreifend in der Dienstleistung für den Bürger, für die Bürgerinnen oder für das Unternehmen, wo ich eben diese verbinden würde.

Tobias Koch: Ich möchte da vielleicht an der Stelle einfach mal einhaken. Ich denke, dass man bei dieser Diskussion dann oftmals vielleicht vergisst, dass Estland zwar heute an dieser Stelle ist, aber Estland geht ja auch schon diesen digitalen Wandel seit 20 plus Jahren an, das heißt, Estland hat auch Debatten geführt. Estland führt heute Debatten. So wurde vor einiger Zeit eine Debatte darüber geführt, ob das online Wählen irgendwie biometrisch authentifiziert unterstützt werden soll, zum Beispiel. Das heißt, diese Diskussionen finden nach wie vor statt. Es ist jetzt auch nicht so, dass auf einmal alles digital war, sondern es ist natürlich auch ein gesellschaftlicher Prozess, der da eine Rolle gespielt hat, ein Diskurs. Aber letztendlich glaube ich auch, dass eine wichtige Rolle in Estland in diesem digitalen Wandel eben diese Experimentierfreudigkeit gespielt hat, die wir am Anfang schon angesprochen haben. Und dass man letztendlich Schritt für Schritt digitaler wird. Also irgendwo muss man anfangen. In Deutschland ist das gerade schwer überblickbar, weil es einfach unheimlich viele Akteure sind, die arbeiten und die alle Visionen und Ziele haben. Und es lässt sich vielleicht schwer als die eine große digitale Geschichte erzählen, die wir über Estland erzählen können, aber das ist ein Prozess und wird immer ein Prozess sein, der wird nie irgendwann aufhören, sondern der läuft die ganze Zeit weiter und ich glaube, das ist unheimlich wichtig.

Also fassen wir zusammen Estland ist auch noch nicht fertig, ist auch immer noch am Weitermachen und Deutschland darf gerne Altes aufbrechen, aber die Gründlichkeit beibehalten.

Ich möchte noch mal kurz auf das Statement von Maria zurückkommen. Und zwar hat sie ja auch einige Aspekte angesprochen, die noch viel Potenzial bei der Weiterentwicklung von digitalen Services aufweisen. Angesprochen hat sie zum Beispiel Zeit, Aufwand, benutzerfreundliche Bedienung. Tobias, jetzt würde mich da trotzdem noch mal der Blick nach Estland interessieren. Welche Rolle spielen denn diese nutzerorientierten Aspekte bei der Umsetzung verschiedener Services in Estland?

Tobias Koch: Seit Januar 2022 gibt es einen neuen Government CIO im estnischen Wirtschaftsministerium, was so federführend ist für die Digitalisierungsagenda in Estland. Der Mann heißt Luukas Ilves, ist in den Dreißigern, und in einem seiner ersten Interviews, das ich mit Interesse gelesen habe, hat er gemeint, dass es für die Bürger und Bürgerinnen in Estland schwer nachvollziehbar ist, warum die digitale Krankenakte, die wir in Estland haben und die auch gut funktioniert, warum die nicht genauso benutzerfreundlich ist wie eben ihre Taxi-App oder ihre Essenslieferungs-App. Und damit spricht er natürlich etwas an, was in dieses Thema Nutzerorientierung reingeht. Wir sehen mit diesem Statement, auf oberster politischer Ebene ist das Thema. Das heißt, da wird auch das Ministerium weiter in diese Richtung pushen. Bei CGI Estland haben wir auch in dieser Richtung gearbeitet, zusammen mit staatlichen Behörden. Wir haben Nutzerbefragungen gemacht für bestimmte digitale Dienstleistungen, die neu etabliert werden sollen, und sprechen da direkt mit den Nutzern. Und es geht viel darum, letztendlich den Nutzer und der Nutzerin, die Oberflächen, die Interfaces einfach zu machen. Dass er sich einfach zurechtfindet, dass er wiedererkennt, dass es jetzt eine staatliche Stelle ist, das heißt, da kann man ja viel mit Design, Farben etc. machen. Es gibt einheitliche Baukästen für staatliche Websites, für Services und es wird auch mit verschiedenen Mitteln experimentiert, wie eben mit sprachlichen Assistenten etc., um da wirklich dem Nutzer so nah wie möglich zu kommen und um Dinge so einfach wie möglich zu machen. Das war von Anfang an ein Schwerpunkt, aber hat sich natürlich mit allen möglichen Streaming-Plattformen etc. auch stark verändert, die ja einen riesen Paradigmenwechsel, so wie wir Dienste nutzen, letztendlich mitgebracht haben, dass wir viel mehr über Nutzerorientierung, Design etc. sprechen.

Nah am Nutzer sein, hast du gerade gesagt, auch nah an der Lebenswirklichkeit der Nutzer. Also gerade die Frage: Warum ist das nicht wie bei meiner Taxi-App? Wenn die Nutzerperspektive offensichtlich eine so wichtige ist, Andreas, ist das denn in Deutschland in den Köpfen der Entscheider auch schon so richtig verankert oder dürfen wir da vielleicht ab und zu noch mal ein bisschen mehr erinnern? Was ist da so dein Eindruck? 

Andreas Rathgeb: Die Entscheider und vielleicht die politischen Entscheider, also sozusagen die Spitzen, die sind bei uns in Deutschland an vielen Stellen eben auch gewählte Personen dank unserer Demokratie. Und an der Stelle ist das Bewusstsein deutlich gestiegen in den letzten Jahren. Diese Menschen wollen auch wiedergewählt werden oder wollen in so ein Amt rein und bewerben sich für ein solches Amt, und insofern fokussieren die tatsächlich auch genau auf den Aspekt, dass eben die Anwender und Anwenderinnen von Anwendungen, Nutzerinnen und Nutzer von Services der öffentlichen Hand entsprechend das vorfinden, was sie auch wirklich erwarten. Sie nehmen das in ihre politische Agenda mit rein und machen es sozusagen zum Thema. Zum anderen ist es so, dass es natürlich immer wieder hilft, die einzelnen Aspekte auch tatsächlich zu betrachten unter diesen Möglichkeiten, die die Digitalisierung mitbringt, die neue Technologien mit sich bringen und diese Diskussionen auch immer wieder neu zu starten. Ob das jetzt Wahlen sind in Deutschland, die wir vielleicht digital unterstützt machen können, so als Zwischenschritt zu einer echt digitalen Wahl, da sehe ich tatsächlich auch meine Aufgabe und viele Aspekte, die wir hier bei CGI antriggern und sagen, das müssen wir einfach mit angehen. Da müssen wir Leute an der Hand nehmen und sozusagen Dinge auch ausprobieren oder einfach eben den Diskurs mit der Gesellschaft führen. Das kann auch im Bereich sein, wo es um Bedrohungen geht, die vielleicht aus dem Digitalen kommen und wo die Antwort des Staates auch eine digitale sein muss. Ein Thema, das mich stark umtreibt, ist eben der Kampf gegen Hate Speech. Und dieser Kampf ist eben wiederum nur digital denkbar. Da muss ich die Gesellschaft mitnehmen, dass das Problem bewusst wird, da muss ich aber auch tatsächlich Antworten finden, die sozusagen mit Technologie zusammenhängen. Und diese Technologie muss vom Staat selbst eingesetzt werden, um das zu bekämpfen. Und insofern ist es eigentlich ein sehr, sehr breites Spektrum und es geht immer wieder darum, das Bewusstsein neu dafür zu schärfen, neue Themen auf den Tisch zu bringen und dann dort entsprechend voranzukommen. Und ja, ich sehe: Entscheiderinnen und Entscheider sind sich in der Tat dessen bewusst, dass es ein zentraler Aspekt ist.

Alleine aus dem, was du gerade alles gesagt hast, könnte ich noch so viele Fragen stellen. Ich hoffe, es geht allen auch so, die uns zuhören. Aber wir wollen uns ja auch noch ein bisschen was für die kommenden Folgen aufbewahren. Und deswegen würde ich sagen, kommen wir jetzt hier zum Ende, und zwar mit einer letzten Frage oder einer letzten Aktion. Eure letzten Worte auf meine Abschlussfrage in einem Satz: Warum ist die Digitalisierung im Public Sector so wichtig? 

Andreas Rathgeb: Unser aller Leben findet eben auch digital statt, wieso also nicht die Interaktion mit dem Staat? Auch die muss digital stattfinden!

Tobias Koch: Das greife ich gerne auf und schließe an, dass sie unheimlich wichtig ist, die Digitalisierung im Public Sector, um letztendlich in Zeiten von knapper werdenden Ressourcen und Krisen als Staat und als Gesellschaft effizient handeln zu können.

Das war die erste Folge von Building Digital Nation. Schön, dass Sie zugehört haben. Haben Sie Fragen, Anregungen oder Kritik? Wenden Sie sich gerne an Andreas Rathgeb über LinkedIn oder schreiben Sie ihm eine Mail an mailto:andreas.rathgeb@cgi.com. In der nächsten Folge geht es um die Frage, wie anschlussfähig im digitalen Sinne die deutsche Verwaltung ist. Wir betrachten, wie weit Deutschland mit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes ist und ob hier noch Hoffnung für digitale Services in der Verwaltung besteht.

 

Ausblick zu Folge 2:

Andreas, sind wir jetzt in Deutschland verloren? Also, weil wir jetzt vielleicht nicht einfach mal eben die gesamte Infrastruktur neu aufbauen können. Wie müssen wir das angehen? Gibt es einen Weg zur Rettung?

Andreas Rathgeb: Also ich habe schon mal gute Nachrichten: Nein, wir sind nicht verloren. Und tatsächlich ist schon sehr, sehr viel passiert.

Ja und was alles schon passiert ist und was es andererseits noch zu tun gibt, hören Sie in Folge zwei von Building Digital Nation.