Die E-Commerce-Umsätze im Retail sind in der ersten Jahreshälfte 2022 erstmals wieder gesunken. Oft liegen die Gründe hierfür in Engpässen entlang der Lieferketten und dem zurückhaltenden Konsumverhalten, wie das historische Tief des GfK-Konsumklima-Index im September zeigt. Gleichzeitig kämpft der Onlinehandel aber auch mit dem sinkenden Wert des Euro und den stark gestiegenen Kosten für Produkte, Transport und Energie. Bei der Bewältigung dieser Herausforderungen kann aktives Pricing zum echten Game Changer werden.

Der Onlinehandel steht unter Druck

In den letzten Monaten haben sich zahlreiche Faktoren, die den Verkaufspreis der Waren beeinflussen, stark verändert. Für den Retail bringen die negativen Trends Knappheit, Kostensteigerung und Kaufzurückhaltung neue Herausforderungen mit sich. Im Onlinehandel kann der Retail diesen nur begegnen, wenn er möglichst viele Faktoren in die Preisgestaltung einfließen lässt, die Preise zügig anpasst und die Kundenreaktion eng überwacht. Vor allem in Kombination mit einer leistungsstarken Business Intelligence Software kann aktives Pricing eine zentrale Rolle einnehmen.

Perfekt für volatile Märkte: aktives Pricing

Aktives Pricing macht es einfach, auch unter schwierigen Bedingungen die optimalen Verkaufspreise zu finden. Aktuell reicht dies aber oft nicht mehr, um den Erfolg im Onlinehandel zu sichern. Stattdessen muss das gesamte Produkt- und Markenportfolio überprüft und umgebaut werden. Auch für diesen Transformationsprozess ist aktives Pricing das zentrale Tool in der Retail-Industrie.

Die Besonderheiten des aktiven Pricings

Aktives Pricing ist ein kontinuierlicher Prozess, der es ermöglicht, die optimalen Verkaufspreise für jedes Produkt zu finden. Aktiv steht dafür, dass dabei nicht nur auf äußere Einflüsse reagiert wird, sondern permanent selbst neue Preisimpulse gesetzt und die Nachfragereaktionen der Kundinnen und Kunden nach den für das Unternehmen relevanten KPIs (z. B. Deckungsbeitrag pro Verkauf) untersucht werden. Je nach Ergebnis lässt sich so die optimale Kombination aus Sortiment und Preis ermitteln.  

Pricing im E-Commerce kann jedoch enttäuschen, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht gegeben sind. Mögliche Einschränkungen ergeben sich dabei nicht nur durch den Wettbewerb, sondern auch die Datenqualität, die Produkt-, Marken- und Lieferantenstruktur sowie die Vertriebs- und IT-Strukturen.

Auf dem Weg zum perfekten Preis  

Viele Pricing Tools konzentrieren sich auf die Beobachtung des Wettbewerbs oder das Sicherstellen einer verlässlichen Kalkulation. Leistungsstarke Lösungen kombinieren KI-Empfehlungen mit zuvor festgelegten Regeln. Dies kann für gute Ergebnisse bei der Optimierung der Preise sorgen und einen gewissen Beitrag zu mehr Ergebnis leisten.

Aber: Wird der Fokus zu schnell auf das Automatisieren des Pricing-Prozesses gelegt, kommen wichtige Analysen im Vorfeld zu kurz, z. B. zu den Voraussetzungen oder den Auswirkungen von Pricing.

Dies begrenzt die enormen Möglichkeiten des aktiven Pricings und lässt außer Acht, dass es einen entscheidenden Beitrag zum Product und Brand Management und zur Gesamtstrategie des Unternehmens leisten kann.

Damit das volle Potenzial des aktiven Pricings ausgeschöpft werden kann, muss deutlich früher angesetzt werden als bei der automatisierten Wettbewerbsbeobachtung und einem cleveren Pricing-Algorithmus. KI führt nur dann zu den gewünschten Ergebnissen, wenn der Input vollständig ist und die Empfehlungen konsequent umgesetzt werden.  

Die vier Showstopper erfolgreichen Pricings

Was erschwert es dem Retail normalerweise, den optimalen Preis zu finden? Zuerst einmal der Mangel an zuverlässigen Daten darüber, wie wichtig die einzelnen Produkte und Sales Channels für den Unternehmenserfolg sind. Verlässliche, detaillierte Realtime-Daten zu den Deckungsbeiträgen pro Verkauf sind nicht verfügbar oder werden dem Controlling nicht zur Verfügung gestellt. Aus diesem Mangel ergibt sich beinahe zwangsläufig eine starre Kalkulation, die auf ‚Nummer Sicher‘ gehen möchte und einen bestimmten Deckungsbeitrag in Prozent oder pro Stück fordert. Dies führt dazu, dass keine Preise außerhalb dieser Kalkulations-Leitplanken getestet und aufgrund ungenauer Daten keine eindeutigen Empfehlungen ausgesprochen werden können.

Zweitens limitiert der Wettbewerb. Wenn Mitbewerber einen aktuellen Marken-Sportschuh für 100 € anbieten, wird man mit einem Preis von 120 € keinen hohen Absatz generieren können. Die hohe Vergleichbarkeit engt das mögliche Preisfenster ein; die Nachfrage-Elastizität kann bei leichten Abweichungen vom üblichen Marktpreis stark schwanken.

Weitere Faktoren, die die Preisgestaltung des Retails im Onlinehandel eingrenzen, sind mittelmäßige Margen, Verkaufspreis-Vorgaben und begrenzte Liefermengen, die von den (Marken-)Herstellern vorgegeben werden. Extreme Preise lassen sich nicht testen, wenn die Margen dies nicht hergeben. Zudem ist der Einfluss des Online-Händlers auf die Liefermengen des (Marken-)Herstellers zu gering, um starke Nachfrageschwankungen zu bedienen.

Zuletzt kann auch die Vertriebsstruktur oder IT-Infrastruktur eine agile und freie Gestaltung der Preise unmöglich machen. Beliefert man neben den Endkundinnen und -kunden auch Händler mit den gleich gebrandeten Produkten oder veröffentlicht man einen Printkatalog, so werden diese Händler i. d. R. nur kleinere Preisschwankungen tolerieren und können mit ihrer eigenen Kalkulation dem aktiven Pricing nicht folgen. Auf der IT-Seite kann z. B. ein Mangel an Systemressourcen häufige Preis- oder Rabatt-Updates auf Artikelebene limitieren.

Was braucht man also für ein wirksames aktives Pricing?  

  • Kenne deine Daten! Wird eine Business Intelligence Software, mit korrekten und relevanten Daten aus ERP, Produkt-Informations-Management (PIM) und Controlling gespeist und permanent verfeinert, erfährt man schnell, welches die wahren Cash Cows und welches die Lame Ducks des eigenen Produktportfolios sind. Besondere Aufmerksamkeit benötigen dabei die folgenden Faktoren:
  • Eigenmarken und das Sourcing im Herstellerland – zur Absicherung gegen eine hohe Vergleichbarkeit und zu enge Preiskorridore. Die höheren Margen schaffen Luft für extremere Preispunkte, erhöhen die Flexibilität bei stark elastischer Nachfrage und ermöglichen es dem Retail, positive Skaleneffekte mitzunehmen.
  • B2C- bzw. D2C-Vertrieb bietet einen ungefilterten Blick auf die Reaktion des Endkunden.
  • Das Produkt Management kann sich dabei zunächst auf wenige Produkte aus möglichst unterschiedlichen Produktgruppen fokussieren.
  • Variable und vielseitige Preis- und Rabattdarstellung: Kunden reagieren sehr unterschiedlich auf die Darstellung eines Vorteils. Empfehlenswert ist es, zwischen Rabatten am Produkt, befristeten Promotions und individuellen Aktionen zu variieren. So lässt sich optimal feststellen, bei welcher Darstellung die Nachfrage am meisten stimuliert wird.
  • Gerade in Bezug auf den letzten Faktor gilt es weitere Details zu berücksichtigen: Veränderungen an den Verkaufspreislisten und Rabatten bringen unter Umständen hohen Datentraffic mit sich und sorgen für Aktualitätsprobleme in den Produkt-Feeds. Hier muss ein End-to-end-Qualitäts-Check der Preisdarstellung etabliert werden – vom ERP über den Onlineshop bis hin zur Preissuchmaschine.

Die richtigen Schlüsse ziehen

Sind diese Voraussetzungen alle erfüllt, kann mit den Tests begonnen werden. Im Folgenden soll beispielhaft im Hinblick auf folgende KPIs optimiert werden:

  • Maximierung des Deckungsbeitrag auf Einzelprodukt-Ebene   
  • Permanente Optimierung des Gesamt-Deckungsbeitrags des Portfolios  

Dabei ist es zunächst naheliegend, Langsamdreher zu reduzieren und gute Seller im Preis etwas anzuheben. Knappe Ware sollte ebenfalls teurer verkauft werden, um die Nachfrage optimal auszuschöpfen und den Abverkauf bis zur neuen Anlieferung im Lager zu strecken. Dem Online-Marketing helfen permanent verfügbare Produkte ebenfalls, damit die bezahlten Klicks für das Search Engine Advertising und das Retargeting nicht auf vergriffene Artikel verweisen.

Im nächsten Schritt werden mehr oder weniger extreme Verkaufspreise aktiv pro Produktgruppe getestet, unabhängig von Knappheit oder Drehung. Im Rahmen des  international differenzierten Assortment Pricings sollten dabei pro Land unterschiedliche Preispunkte oder Rabattaktionen getestet werden. Eine Business Intelligence Software mit guter Datenqualität zeigt, in welcher Periode der Händler zu welchen Preisen den höchsten absoluten Deckungsbeitrag verdient hat.  

Über die Vergleichbarkeit von Verkaufsperioden

Beim Vergleich der Verkaufsperioden im Retail gilt es einige Faktoren zu berücksichtigen, zum Beispiel: Sind die Produktverkäufe mengenmäßig bereits aussagefähig? Waren vielleicht wichtige Komplementärprodukte oder Substitutionsprodukte im gleichen Zeitraum besonders teuer, günstig oder überhaupt verfügbar? Hat der betrachtete Artikel eine Saisonkurve? Diese und viele andere Faktoren können als Korrekturfaktoren in die BI integriert werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich gegenseitig beeinflussende Artikel in Gruppen zusammenzufassen – so kommt man dem optimalen Preis noch näher.  

Die Häufigkeit von Preisanpassungen im Verkauf ist sehr individuell und richtet sich nach dem Volumen der in einer bestimmten Zeit gesammelten Nachfragedaten, aber auch nach der Art des Produktes und wie häufig es bestellt wird.

Nach einer bestimmten Phase wird sichtbar, dass manche Produkte zu echten Höhenflügen ansetzen und andere nicht aus der Reserve zu locken sind. Da die Unternehmens-Ressourcen in der Regel knapp sind und das Produktmanagement idealerweise nach dem Pareto-Prinzip (oder der 80/20-Regel) arbeitet, ist dieses Vorgehen sinnvoll:  

  • Die 20 % besten Produkte sollten einem besonders intensiven Pricing unterzogen, weitere Varianten und Sets von ihnen gebildet und ähnliche Produkte bezogen werden. Auch das conversion-orientierte Marketing sollte sein Budget auf diese Produkte konzentrieren. Vor allem muss dafür gesorgt werden, dass die Preise in allen Produktfeeds aktuell und Promotions aufmerksamkeitsstark sind. Das Suchvolumen für die eigenen Produkte bzw. das eigene Keywordset kann man als einzelner Anbieter nur begrenzt stimulieren. Für die Priorisierung des eigenen Klickbudgets ist es besonders positiv, dass die besten Artikel durch aktives Pricing immer rentabler werden. Eine Business Intelligence Software liefert klare Empfehlungen, bis zu welcher KUR (Kosten-Umsatz-Relation) oder bis zu welchem ROAS (Return on Adspend) man mitbieten kann.
  • Bei den 80 % schwächeren Produkten sollte gar nicht erst der Versuch unternommen werden, sie zum „Fliegen“ zu bringen. Stattdessen ist es sinnvoll, die Bestände und Marketingkosten hier zu reduzieren. Gerade aktuell können ganze Warengruppen durch knappe Verfügbarkeit und hohe Einkaufspreise unattraktiv für den Retail werden. Es bietet sich an, diese durch weitere Varianten der Cash Cows zu ersetzen, die man durch das Pricing ermittelt hat. Hierdurch werden auch der Kundenservice, die Datenpflege, das QM und die Retourenabteilung entlastet.

Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, dass Artikel nach wenigen Monaten aktiven Pricings den dreifachen absoluten Beitrag zum Unternehmensgewinn leisteten. Je nach Artikelgruppe kann der dafür optimale Verkaufspreis deutlich vom erwarteten Preis abweichen. Der Deckungsbeitrag pro Stück bzw. in Prozent oder die verkauften Mengen spielen für sich genommen nur eine untergeordnete Rolle. Das Produkt aus diesen beiden KPIs ist wesentlich relevanter für den Unternehmenserfolg und lässt sich oft stark steigern. Wenn eine wichtige Artikelgruppe bei einem Mittelständler statt 400 T € nun 1,2 Mio € Deckungsbeitrag erwirtschaftet, ist dies ein entscheidender Faktor – wie ein konkretes Beispiel einer Warengruppe von Motorrad Accessoires zeigt.

Wichtig zu wissen  

Ist das aktive Pricing in eine intensive Unternehmensanalyse eingebettet und besteht ein klarer Willen zur Veränderung, hilft es dem Produkt Management unmittelbar, die Produkte mit dem größten Beitrag zum Unternehmenserfolg zu identifizieren und diese auszubauen. Gerade in der heutigen Situation – wenn Produkte nur noch schwer oder sehr teuer zu beschaffen sind oder die Kundinnen und Kunden zurückhaltender kaufen – hilft dies dem Retail-Onlinehandel, sich neu zu positionieren.

Aktives Pricing schafft zunächst die Voraussetzungen für wertvolle Daten-Insights, mehr Rentabilität und Unabhängigkeit und hilft dann in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess, die Stärken auszubauen und die Schwächen zu eliminieren. Die Ergebnisse der Maßnahmen werden in einem einzigen KPI gebündelt: dem absoluten Deckungsbeitrag pro Produkt und Zeit, der so zum überzeugenden Argument für den Transformationsprozess wird.

Daher empfehle ich, aktives Pricing auf zuverlässiger und umfangreicher Datenbasis mit Eigenmarken-Artikeln im D2C-Vertrieb und möglichst variabler Preisdarstellung zu testen und als kontinuierlichen Prozess im Controlling oder Produkt-Management zu etablieren.  

Die aktuelle Krise lässt sich an der Kundenreaktion auf die Kombination aus Produkt und Preis messen. Diese Reaktionen permanent zu analysieren und zu stimulieren, ist die Kernaufgabe des aktiven Pricings. Daher stellt es ein universelles Tool für den Onlinehandel dar, um seine Position unabhängig von der Marktsituation auszubauen.

Über diesen Autor

Thomas Gehler, CGI

Thomas Gehler

Thomas Gehler, Executive Consultant Retail bei CGI Deutschland In mehr als 20 Jahren im Retail Business, davon 12 Jahre im E-Commerce hat Herr Gehler Erfahrungen im rentablen Skalieren und Transformieren von Geschäftsmodellen erworben und die gesamte Wertschöpfungskette von Einkauf über Controlling bis Marketing kennengelernt. ...