Wenn man in der Entwicklung auf die Überholspur wechseln will, müssen Produkt- oder Geschäftsideen schnell in ein Minimum Viable Product überführt und am Markt getestet werden. Das Resultat muss skalierbar sein, denn erst so lässt es sich als stabiles Produkt oder als Service in der Linie verankern. Jedoch stellt genau diese Anforderung die Unternehmen und Konzerne in Deutschland immer wieder vor große Herausforderungen – trotz vorhandener digitaler Innovationsfabriken, Digital Labs und Acceleratoren.
Revolution statt evolutionäre Innovation
Clayton Christensen bezeichnet in seinem bahnbrechenden Buch "The Innovator's Dilemma" etablierte Unternehmen als „Gefangene zwischen Anteilseignern und Kunden“, die lediglich zu evolutionären Innovationen fähig sind. Seiner Meinung nach kann eine grundlegende Neuerung nur wie folgt erreicht werden:
- Gründung von unabhängigen Organisationseinheiten, die sich um die Entwicklung und Vermarktung von disruptiven Innovationen kümmern
- Gestaltung von neuen Einheiten in Form von lernenden Organisationen, die mithilfe von Versuch-und-Irrtum schnell und frühzeitig Fehler im Produkt erkennen und sie stetig an die Kundenbedürfnisse anpassen
- Neue Einheiten dürfen auf die Ressourcen des Mutterkonzerns zurückgreifen, es ist aber wichtig, dass sie dabei eigenständig mit hohen Freiheitsgraden arbeiten und eine eigene Kultur, Werte und Prozesse entwickeln können
Christensens Ansatz führte in Deutschland in den letzten Jahren zu einem Boom der Digital-Labore und Innovation-Hubs. Nahezu jeder Konzern besitzt zwischenzeitlich eine digitale Innovations- und Denkfabrik.
Haben die Digital-Labore ihre Ziele erreicht?
Mit dieser Frage beschäftigt sich eine jüngst veröffentlichte Studie von Infront und Capital. Die darin befragten Unternehmen gaben an, mit ihren Digital-Laboren maßgeblich zu folgenden Zielen beitragen zu wollen:
- umsetzen der digitalen Transformation
- entwickeln von disruptiven Innovationen und neuen Geschäftsmodellen
- Kulturwandel
Die Studie deckt auf, dass in den Innovationsfabriken zwar Neues ausgedacht wird, dass man sie aber nicht wirklich als Innovationsschmieden bezeichnen kann. Ihr Wertbeitrag ist zu gering, denn es gibt nicht nur Probleme bei der Skalierung sondern vor allem bei der Überführung des MVP in ein serienreifes Produkt. Das größte Problem ist die Integration des Ergebnisses in die bestehende System- und Unternehmenslandschaft, sowie die Agilisierung der Line. Hinzu kommt die geringe positive Wirkung der digitalen Transformation auf das ganze Unternehmen. Der notwendige Kulturwandel im Unternehmen bleibt häufig aus und die Kluft zwischen den neuen agilen Einheiten, den Schnellboten und den traditionellen Teams des Unternehmens wächst.
Holistischer Ansatz mit vier Handlungsfeldern
Eine systemische und holistische Vorgehensweise, welche die Organisation nicht überfordert oder in die gefürchtete Acceleration Trap führt, kann helfen, sowohl Business und IT auf die Überholspur zu bringen. Hält man sich an die in der Grafik gezeigten vier Handlungsfelder, so ergeben sich schnell spürbare Synergieeffekte.
Neue Ideen entstehen ständig in einem Unternehmen, nicht nur in Digital-Laboren. Alle Mitarbeiter sollten am Prozess teilhaben dürfen, wenn ihre Ideen für das Unternehmen einen Mehrwert bringen und Innovations-verdächtig sind. Wichtig ist, die wertbringenden Ideen zu identifizieren und sie schnell umzusetzen. Von zentraler Bedeutung ist hier die kombinierte Anwendung der Methoden Design Thinking, Value Proposition Design und Business Model Canvas, verbunden mit der Bereitschaft des mittleren Managements, die neuen, agilen Methoden anzunehmen.
Der Prozess, aus einem Business Modell einen Business Case abzuleiten, muss "Politik"-frei gesteuert und aus der Sandbox heraus schnell zu einem MVP umgesetzt werden. Echte Kunden und Mitarbeiter aus der Linie, in die das MVP überführt werden soll, sollen am "Build-Measure-Learn"-Zyklus teilnehmen, das agile Momentum spüren und von Anfang an die Vorteile aus dem MVP für die spätere Kundenerfahrungen miterleben. Ausgerüstet mit diesem Wissen und in agilen Methoden geschult, sind die Lab-Mitarbeiter die besten Botschafter für die neue Arbeitskultur, die in der Linienorganisation verwurzelt werden muss.
Ein Digital Lab ist eine hervorragende Sandbox. Sie sollte immer die Nähe zu den Fachabteilungen haben, aus denen eine Idee stammt und immer die IT-Abteilung integrieren, die nachher die Integration, Weiterentwicklung und den Betrieb übernimmt. Nur so lässt sich eine nachhaltige und gemeinsame Produktvision basierend auf geteilter Verantwortung realisieren. Eine ganzheitliche Vorgehensweise führt zu einem neuen Miteinander von Business und IT.
Es gibt bereits gute Beispiele die zeigen, dass ein Unternehmen ohne eine Zerteilung der IT in einer bi-modalen Umgebung funktionieren kann. Eines der prominentesten Beispiele ist das Modell von Spotify, das derzeit einigen Unternehmen als Blaupause dient. Man darf gespannt sein, ob sich die neuen agilen Organisationsansätze, zu denen auch LeSS und SAFe zählen, auf breiter Front durchsetzen und wie viel Zeit wir in Deutschland dafür benötigen, um Business und IT gemeinsam auf die Überholspur zu bringen.