Die Digitalisierung ist in vollem Gange, aber 80 Prozent der Unternehmen erreichen noch nicht die gewünschten Ergebnisse ihrer digitalen Bemühungen. Digital Leader haben hingegen das Prinzip einer erfolgreichen Digitalisierung begriffen. Was man von den Besten lernen kann, erklärt Torsten Straß, Geschäftsführer beim internationalen IT Dienstleister CGI.

Herr Straß, Sie haben eine aktuelle globale Analyse Ihres Hauses vorgelegt, die den Digitalisierungsbemühungen von Unternehmen und Organisationen kein gutes Zeugnis ausstellt. Wo stehen wir aktuell?

Diese Bewertung haben nicht wir vergeben, die von uns befragten Unternehmen haben sich selbst bewertet. Für die CGI-Studie „Voice of our Clients“ führen wir weltweit regelmäßig Interviews mit Führungskräften durch und fragen sie nach ihren Erfahrungen, dieses Jahr sogar mit fast 1.700 Entscheidern. Diese Strategiegespräche bieten einen einzigartigen Einblick in den aktuellen Stand der Digitalisierung – und die Ergebnisse sind noch immer ernüchternd. Lediglich 20 Prozent der Befragten sind mit ihren Anstrengungen und Maßnahmen zufrieden in dem Sinne, dass sie ihre selbst gesteckten Digitalisierungsziele tatsächlich bereits erreicht haben. Das ist nur begrenzt ermutigend angesichts der Tatsache, dass es für viele Unternehmen um nicht weniger als ihre Zukunft geht.

Wo sehen Sie die Gründe für diese immer noch geringe Erfolgsrate?

Die vielleicht größte Illusion ist die, man könne Digitalisierung wie eine Art Schminke nutzen, hier ein bisschen pudern, dort etwas Rouge auftragen, eine Digitalisierungsstrategie in den Business Plan aufnehmen oder ein schickes Innovationszentrum mit herumfahrenden Robotern eröffnen. Digitalisierung für ein Unternehmen oder eine Behörde funktioniert anders. Ein bisschen Digitalisierung geht eben nicht. Und sie folgt klaren Regeln.

Offensichtlich gibt es ja auch eine Menge Positivbeispiele für digitale Transformationsprojekte.

Ja, und ihr Anteil ist erfreulicherweise weiter gewachsen. Während er in unserer letzten Untersuchung noch bei nur 16 Prozent lag, ist die Quote dieses Jahr auf die jetzt aktuellen 20 Prozent gestiegen. Wir sehen also Fortschritt und diese Tendenz gibt Anlass zur Hoffnung, das ist die positive News. Und die zweite gute Nachricht folgt gleich hinterher: Die Erfolgsfaktoren sind kein hermetisch gehütetes Geheimnis, kein Expertenwissen. Wenn man genau hinschaut, erkennt man ein Muster. Digitale Leader haben verstanden, dass die Digitalisierung und damit die gesamte digitale Wertschöpfungskette systematisch zu Ende gedacht und umgesetzt werden muss. Sie erfasst sämtliche Unternehmensbereiche, angefangen von einer durchgängigen Digitalisierungsstrategie als Fundament bis hin zur Digitalisierung des Produkt- und Dienstleistungsportfolios, die neue, agilere Formen der Interaktion mit den Kunden möglich macht. Es ist ein Transformationsprozess, der nur ganzheitlich erfolgreich sein kann. Enklaven kann und darf es nicht geben. Wenn ich beispielsweise Kundendaten am Point of Contact oder Point of Sale erst aus einem Legacy-System mit Schnittstellenproblemen abfragen muss, zur Datenanalyse einen Kollegen anrufen oder ein Data Warehouse aufbauen muss, habe ich oftmals schon verloren.

Was machen die erfolgreicheren Unternehmen anders? Kann man sie als Blaupause für die eigenen Digitalisierungsstrategien nutzen?

Sie haben das Prinzip begriffen, dass die Digitalisierung alle Unternehmensbereiche betrifft, und die sogenannte Digital Value Chain dabei im Zentrum aller Aktivitäten steht. Themen wie cloud- und plattformbasierte Technologielandschaften sind eine wichtige Voraussetzung für die digitale Wertschöpfungskette. Umgekehrt sind veraltete Anwendungsportfolios, brüchige Integrationsschichten und fragmentierte Datenlandschaften starke Hindernisse für die Transformation. Es ist auch ein Irrglaube, man könne die Digitalisierung allein durchziehen. Digital Leader bauen frühzeitig ein digital gesteuertes Ökosystem aus Partnern und Dienstleistern auf und entwickeln eine sinnvolle, für alle lukrative Arbeitsteilung, die tatsächlich eine Win-Win-Situation schafft. Erfolgreiche Unternehmen haben auch neue Formen interner Management- und Steuerungsmechanismen entwickelt, die alle Digitalisierungsaktivitäten koordinieren und auf ein gemeinsames, in der zentralen Digitalisierungsstrategie für alle verbindlich definiertes Ziel hin ausrichten, lenken und kontrollieren. Und sie haben, was häufig vergessen wird, ihre Mitarbeiter intensiv eingebunden, geschult und fortgebildet. Mit einer zentralen Präsentation einer Digitalisierungsstrategie ist es echt nicht getan, wenn die Mitarbeiter in den Abteilungen dann alleine gelassen werden. Die Digitalisierung erfordert neue Kompetenzen, um die enormen darin schlummernden Potenziale ausschöpfen und weiterentwickeln zu können. Selbst wenn viele Leistungen aus besagtem Ökosystem beigesteuert werden, braucht man interne Expertise, um sie richtig einschätzen, auswählen und einbauen zu können. Auch hier sind neue Technologien die Basis und Voraussetzung, um mit neuen Kundenerlebnissen und Services erfolgreich zu sein.

Sie haben die große Bedeutung von Daten bereits angerissen. Welche Rolle spielen sie in diesem Modell konkret und wie wichtig ist dabei der Datenschutz?

Hier befinden wir uns im Kern digitaler Wertschöpfungsketten. Daten sind gleichzeitig Motor und Treibstoff der Digitalisierung. Ihr Umfang wächst ständig, einerseits aus historischen internen und externen Quellen, aber auch – und das wird immer wichtiger – quasi in Echtzeit aus den aktuellen Interaktionen. Ohne den Einsatz modernster IT- und KI-Technologien sind weder das Management dieser immensen Datenvolumen, noch deren sinnvolle operative Nutzung denkbar. Die Unfähigkeit, Daten optimal zu nutzen, wird in unserer Studie „Voice of our Clients“ als häufiges Hindernis für Innovationen genannt. Folgerichtig geben 75 Prozent der befragten Führungskräfte die Entwicklung fortschrittlicher Analysen und Berichte als ihre wichtigste Innovationsinvestition für die nächsten drei Jahre an. Um digitale Innovationen voranzutreiben, müssen Unternehmen die Datennutzung von der Vorhersage und Planung auf das Erkennen und Reagieren umstellen. Das kontinuierliche Erfassen des Umfelds (Daten und Erkenntnisse) und die Bereitschaft, schnell zu reagieren (Entscheidungen und Maßnahmen), ist das, was wir den proaktiven „Sense-and-Response“-Instinkt nennen. Auch dieser Punkt ist ein anspruchsvolles, unternehmenskritisches Aufgabenfeld für die IT. Ohne ihren Einsatz sind zudem die sich ständig verschärfenden externen Security und internen Compliance-Vorgaben nicht zu erfüllen. Sie sehen: Technologie spielt an jedem Punkt der digitalen Wertschöpfungskette eine elementare Rolle. Sie muss daher als zentrales Wertschöpfungs-Tool verstanden und entsprechend eingesetzt werden.

Wie wichtig ist bei der digitalen Transformation das Thema Nachhaltigkeit und wie gehen erfolgreiche Unternehmen damit um?

Die Bedeutung der Nachhaltigkeit für digitale Wertschöpfungsmodelle wächst rasant. In unserer Untersuchung geben die erfolgreichen Führungskräfte an, dass Nachhaltigkeit für die Schaffung von Mehrwerten von zentraler Bedeutung ist, und zwar mit einem satten Plus von 21 Prozentpunkten gegenüber denjenigen, die nach eigener Einschätzung die erwarteten Ergebnisse bislang noch nicht erzielt haben. Nachhaltigkeit ist also ein erkennbar wesentlicher Teil erfolgreicher Digitalisierung. Aber auch hier geht es um Durchgängigkeit. Es reicht nicht, Nachhaltigkeit lediglich als wohlklingendes Ideal oder plakatives Verkaufsargument im Sinne von „Greenwashing“ zu proklamieren. Sie muss vielmehr als werthaltiges Element für Kunden, Mitarbeiter und die Unternehmen selbst in die digitalen Wertschöpfungsketten implementiert werden.

Gibt es eine Art Resümee, das Sie all denen mitgeben können, die in die Champions League der Digital Leader aufsteigen wollen?

Die Muster, Modelle und Bausteine für eine erfolgreiche Digitalisierung sind vorhanden und bekannt und wir beraten Kunden sehr oft in genau dieser Fragestellung. Jetzt geht es darum, sie auf den jeweiligen Einzelfall sinnvoll zu adaptieren und konsequent zu nutzen. Das offensichtlich größte Hindernis auf dem Weg zu einem digitalen Unternehmen ist es, die Reichweite und Bedeutung dieser Transformation zu unterschätzen. Es geht also weniger um das Handwerk oder um zwei gekaufte Start-Ups, die als Inkubator dienen sollen, als um die Einstellung. Wer sich dessen bewusst ist, dem stehen alle Türen zu einer erfolgreichen digitalen Transformation seines Unternehmens offen. Die Digital Leader machen es vor.

Interview mit Torsten Straß im Themenspecial "Smart Digitalisierung" Die Welt vom 9.12.2021.