Legal Tech ist ein großes Thema – und trotzdem dominiert an vielen Stellen noch das Fax. In dieser Folge des Podcasts „Building a Digital Nation“ sprechen Andreas Rathgeb, Senior Vice President Consulting Services & Industry Lead Public Sector Deutschland von CGI, und Tobias Koch, langjähriger Director Consulting Services von CGI in Estland, darüber, was Digitalisierung für die Justiz bedeutet, wie Künstliche Intelligenz Einzug in die Gerichtssäle hält und warum die Justiz aufgrund der schieren Datenmenge bei Verbrechen gar nicht mehr anders kann als auf IT zu setzen. Moderiert wird die Folge von Aline-Florence Buttkereit. 

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Herzlich willkommen zum Podcast „Building a Digital Nation. Insights für Bund, Länder und Kommunen“. Wir besprechen hier Themen rund um Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Uns interessieren Antworten zu Technologien, Menschen und Methoden. Wo steht Deutschland mit der Digitalisierung? Wieso ist Estland schon weiter? Wen und was braucht ein digitaler Staat in der Zukunft und wie können beide Nationen voneinander lernen?

In Folge sechs tauchen wir ein in die Welt der Justiz. In Estland kann man bereits Unterhalt für Kinder online beantragen. Möglich macht das unter anderem das E-File, also die elektronische Gerichtsakte. Welche Funktionen und neue Möglichkeiten dieses noch so bringt, erläutern Andreas und Tobias für beide Länder. Denn auch in Deutschland passiert hier schon mehr, als sie vielleicht vermuten. Estland arbeitet währenddessen quasi an einem Google-Doc für Gesetze und will damit den Gesetzgebungsprozess digitalisieren. Bereichert wird die Gesprächsrunde diesmal durch die Einblicke von Expertin Liisa Abel. Sie arbeitet bei CGI Estland im Bereich Justiz. Sie spricht außerdem darüber, was passiert, wenn man Technologien wie Machine Learning ins digitale Gerichtswesen integriert. Sie merken schon, die Zukunft des Gerichts ist ohne Digitalisierung kaum vorstellbar. Und das ist nicht nur bei Digitalexperten im Bewusstsein angekommen.

„Die Digitalisierung der Justiz ist keine Modeerscheinung, sondern Grundvoraussetzung für einen zukunftsfähigen Rechtsstaat.“ Das ist ein Zitat von Marco Buschmann, seit Dezember 2021 Bundesminister der Justiz. Andreas, was würde es denn umgekehrt für unseren demokratischen Rechtsstaat bedeuten, wenn Deutschland in Sachen Justiz jetzt eben nicht digitalisieren würde? Also, was wären die konkreten Folgen davon?

Andreas Rathgeb: Das ist tatsächlich eher eine theoretische Betrachtung, weil die Justiz schon sehr lange dabei ist, sich zu digitalisieren und mindestens die Verfahren innerhalb von Gerichten teildigitalisiert hat. Aber es lohnt tatsächlich, sich ein bisschen darüber Gedanken zu machen, denn in unserem Rechtssystem ist es eben so, dass wir auf der einen Seite die Gerichte haben, Gerichtsbarkeiten haben und auf der anderen Seite Anwälte, Bürgerinnen und Bürger, die auf die Gerichte zugehen. Und jetzt könnte es natürlich sein, dass auf der einen Seite sozusagen die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden, Anwaltskanzleien, die hier alles ausnutzen können und auf der anderen Seite auf der Gerichtseite genau das nicht passiert. Und wenn dem so wäre, dann würden wir wahrscheinlich noch mehr Verfahren sehen, die an die Gerichte herangetragen werden und die dann von den Gerichten gar nicht abgearbeitet werden können. Das heißt, wir hätten noch mehr Verzögerungen, die einfach durch den Lauf, vielleicht durch die Instanzen, durch das Verstopfen der Gerichte dann…

Das ist ein sehr schönes Bild, Verstopfen der Gerichte. Da habe ich jetzt gleich auch Berge an Gerichtsakten irgendwie vor meinem inneren Auge.

Andreas Rathgeb: Vielleicht macht es an der Stelle auch Sinn, einfach mal auf die gesamte Justiz zu gucken. Welche Dimensionen haben wir denn da drin? Und da ist es so, dass man auf der einen Seite verschiedene Gerichte und unabhängige Staatsanwaltschaften hat. Die Staatsanwaltschaften mit ihrer Kopplung hin zur Polizei und die Kopplung hin zu den Anwälten. Und im klassischen Fall war diese Schnittstelle meistens eine Fax-Schnittstelle. Die wurde und wird gerade ersetzt durch entsprechende Postfächer und letztlich den elektronischen Rechtsverkehr.

Also nichts zu digitalisieren, ist keine Option. Was heißt es denn umgekehrt? Wie sieht die Justiz im digitalen Sinne aus?

Andreas Rathgeb: Wir haben noch weiter in die andere Richtung gedacht. Auch zur Justiz gehört natürlich der Strafvollzug. In diesem Bereich kann man sicherlich auch an Digitalisierung denken und sogar an bestimmte Elemente von Digitalisierung. Denkt man an so etwas wie eine elektronische Fußfessel oder Ähnliches, die man heute vielleicht auch ganz anders gestalten könnte durch neue Mechanismen. Beispielsweise einen Raum, in dem sich jemand bewegt, kann man überwachen, wenn er oder sie zu so einer elektronischen Fußfessel verurteilt ist. Also das ist das gesamte Spektrum. Im Moment läuft in Deutschland eben genau dieser Prozess, dass die Gerichtsakte digitalisiert wird, der Zugang zu den Gerichten digitalisiert wird und darauf aufbauend dann nochmals neue Verfahren möglich werden.

Jetzt hast du, Andreas, gerade schon angesprochen, dass die Justiz auch in Deutschland nicht nur verstaubte Gerichtssäle hat und irgendwelche Büros voller Aktenordner, was jetzt in meinem Kopf so ein bisschen das vorherrschende Bild gewesen ist, sondern da sind wir durchaus seit vielen Jahren auch schon aktiv. Wenig überraschend ist es jetzt vielleicht für unsere Zuhörenden, die schon andere Folgen angehört haben, dass natürlich auch Estland da schon ganz weit vorne ist und sich in vielen Bereichen auch schon auf dem digitalen Parkett bewegt. Und um uns da ein paar konkrete Einblicke zu geben, wird sich in dieser Folge Liisa Abel immer wieder zu Wort melden. Liisa ist Direktorin in Estland, hat einen juristischen Hintergrund und bereits viele Jahre im Innenministerium und in der öffentlichen Sicherheit gearbeitet. Und sie hat sogar eine fertige Ausbildung zur Polizistin absolviert, weil sie, wie sie selber sagt, das Ganze so ernst nimmt, dass sie sozusagen den vollen Einblick einmal haben wollte.

Liisa beschreibt uns jetzt das erste Beispiel, wie Estland es lösen möchte, so viele Akteure im Rechtsstaat zu berücksichtigen. Da gibt es in Estland schon erste Ideen.

Liisa Abel: Ein erwähnenswertes Beispiel ist das Co-Creation-Projekt. Sein kommerzielles Ziel ist es, einen Gesetzgebungsprozess zu digitalisieren, in dem der gesamte Prozess in eine einzige zentrale Umgebung gebracht wird. Damit entfällt die Notwendigkeit, Dokumente im Dateiformat zwischen den Institutionen auszutauschen. Die Nutzer sind alle am Gesetzgebungsprozess beteiligten Personen: Beamte, staatliche Institutionen, Minister, Ausschüsse und Mitglieder des Parlaments, der Präsident der Republik, juristische Personen einschließlich lokaler und regionaler Behörden, Bürger und verschiedene Interessengruppen.

Andreas, Liisas Ausführungen beschreiben jetzt für mich so eine Art Plattform. Ich weiß nicht, ob du mir da zustimmen würdest. Wenn ja, dann würde ich gerne von dir wissen, warum so ein Plattformgedanke für das Thema Digitalisierung so essenziell ist.

Andreas Rathgeb: Man kann es vielleicht als Gesetzgebungs-Portal oder Gesetzgebungs-Plattform oder Ähnliches betiteln und das passiert in vielen europäischen Ländern parallel, weil es eben auch eine Regulierung aus der EU heraus gibt, die das entsprechend fordert. In Estland habe ich hier herausgehört, dass es ein ganzes Stück weiter geht. Quasi die Schnittstellen, die zu einzelnen Beteiligten sind, sind damit, wenn das umgesetzt ist, dann auch aufgehoben, weil sich alle auf derselben Plattform bewegen. Das ist entscheidend, weil damit die Arbeit stattfinden kann, ohne darüber nachzudenken, wie dann die Daten entsprechend fließen müssen. Insofern ist es – glaube ich – spannend, da noch mal genauer reinzuhören. Und vielleicht, Tobias, wenn du ein oder zwei Aspekte hier gleich noch mal nennst, wie das ganz genau gemacht wurde und dann kann ich vielleicht ein bisschen den Unterschied zeigen, wie man das Ganze in Deutschland angeht.

Tobias Koch: Ja, bei der angesprochenen Plattform von Liisa geht es jetzt konkret natürlich um den Gesetzgebungsprozess. Das ist ein neues Projekt, das sich derzeit in der Entwicklung befindet, das also letztendlich seine praktische Funktionalität beweisen muss. Aber letztendlich kann man sich das als Google Docs für den Rechtsetzungsprozess vorstellen. Zentral ist letztendlich der Gesetzestext, und man ermöglicht den Zugang für alle relevanten Parteien. Das heißt, dass man nichts verliert. Alles ist nachvollziehbar, wer was hinzufügt, und man gewinnt dabei letztendlich an Transparenz und wie wir in vorherigen Folgen des Podcasts besprochen haben, an Effizienz und an Unabhängigkeit von einer gewissen Lokalität. Das heißt, egal wo man sich befindet, ob man nun im Parlamentsgebäude sitzt, ob man in der Kanzlei sitzt oder ob man eben als Präsident gerade auf Staatsbesuch in Berlin ist, könnte man in diesen gesetzten Prozess hineinschauen und als Präsident letztendlich dann sein Okay geben, wenn der Gesetzestext dann in Ordnung ist. Das heißt, dieses viele Analoge, das auch heute noch stattfindet, kann man einsparen und sich konzentrieren auf die anderen Dinge, die dann eine große Bedeutung haben.

Andreas Rathgeb: Genau und an der Stelle möchte ich meine Vision erläutern: Inputgeber für die Justiz ist die Legislative, die Gesetzgebung. Und wenn dieser gesamte Prozess ebenfalls digital stattfindet und ich Kommentierungen und Zwischenschritte da nicht wegfallen lasse, wird ein finaler Text durch Parlamentsentscheidung dann freigegeben. Der ist gültig in dem Moment. In der Rechtsprechung kann es aber spannend sein, den Sinn hinter dem Text in einem konkreten Fall, wenn ich recht spreche, noch zu wissen. In Estland ist das dann eben auch sichtbar in dem Moment, weil eben noch Kommentierungen oder diese Zwischenstände erhalten bleiben. Die sind nicht wirklich gültig, aber helfen gegebenenfalls bei der Rechtsprechung. Wir haben es in Europa in Österreich auch, dass das hier schon ein Stück weiter ist. In Deutschland digitalisieren wir im Moment auf Bundesebene ebenfalls die Gesetzgebung, Stichwort E-Gesetzgebung. Hier ist der Gedanke aber tatsächlich im Moment nicht so weit gehend, dass man überall diese Zwischenstände erhält, und da kann man sicherlich aus anderen Ländern noch etwas lernen. Das ist eine Quelle für die Justiz, bei der Rechtsprechung dort voranzukommen. Anderes würde ich hier gleich gerne einfügen. Das sind Urteile und Entscheidungen, die getroffen wurden, und die werden traditionell veröffentlicht. Hier liegt die Verantwortung beim einzelnen Gericht. Es kennen alle die richterliche Unabhängigkeit. Das Gericht ist unabhängig, welche Entscheidung es veröffentlicht. Klassisch muss man sich das so vorstellen, dass man tatsächlich Namen geschwärzt hat. Also einen Text hatte, Namen und persönliche Dinge quasi geschwärzt hat und dann dieses Verfahren und das Urteil eben dann quasi in die Literatur gegeben hat. Und ein anderer Richter, eine Richterin, konnte in einem ähnlichen Verfahren nachschauen, wie da entschieden wurde und sich dazu Inspiration holen für eine konkrete Entscheidung? In der digitalen Welt macht es nicht mehr Sinn, ein bestimmtes Urteil zu veröffentlichen und anderes nicht. Das heißt, hier macht es Sinn, möglichst viele Daten zu haben. Denkt man an Künstliche Intelligenz und Machine Learning, die vielleicht helfen, hier auch automatisiert Schlüsse zu ziehen. Da möchte man also möglichst viele Daten haben, und damit macht es auch Sinn, automatisch alle Urteile auch digital zu veröffentlichen und dann darauf aus einem Ökosystem heraus wieder zugreifen zu können. Erste Vorhaben gibt es da auch. Auf der einen Seite die Anwaltschaft, die das dann tut, um den Mandanten, die Mandantin ideal für ein Verfahren vorzubereiten und auf der anderen Seite natürlich der Richter, die Richterin, die in der Entscheidung unterstützt wird.

Also zusammengefasst könnte man das so beschreiben, vielleicht dass das Stichwort Transparenz hier ganz wichtig ist. Also es geht ganz viel darum, Transparenz zu schaffen und immer wieder Einblicke geben zu können. Ein weiterer Push in Sachen Digitalisierung in der Justiz in Estland ist die Etablierung der elektronischen Gerichtsakte. Und was die E-Akte in Estland alles so ermöglicht, das hören wir jetzt von Liisa.

Liisa Abel: Die E-Akte selbst ist sehr wichtig. Es handelt sich um ein webbasiertes Informationssystem in Estland, das Dokumente, damit verbundene Verfahren, andere Aufzeichnungen und Prozesse in Zivil-, Verwaltungs-, Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren zusammenführt. Es ermöglicht den Verfahrensbeteiligten und ihren Vertretern, Unterlagen elektronisch an das Gericht zu übermitteln und den Fortgang der entsprechenden Verfahren zu verfolgen. Ein Beispiel: Ein alleinerziehender Elternteil kann einen Antrag auf Kindesunterhalt stellen, ohne das Gericht aufsuchen zu müssen. Und auch die estnische Strafregister-Datenbank ist dort zu finden, was sehr nützlich ist.

Tobias, kann ich mir die elektronische Gerichtsakte in Estland quasi multimedial vorstellen, bei den ganzen Beispielen, die Liisa gerade gebracht hat? Liegt dann da auch ein ganzes Softwaresystem dahinter? Kannst du uns noch mal ein bisschen einen Einblick geben?

Tobias Koch: Ob ich Bürger oder Rechtsanwalt oder Gerichtsmitarbeiter bin, ich sehe die E-Akte, die Gerichtsakte, nur als Oberfläche. Das heißt, ich habe ein Webinterface in meinem Browser. Ich authentifiziere mich mithilfe meiner elektronischen Identität. Basierend auf meiner elektronischen Identität habe ich gewisse Zugangsrechte, kann gewisse Dinge sehen, Dinge bearbeiten, und ich sehe die Gerichtsvorgänge, die eben zurzeit in diesem Fall ablaufen. Das, was da letztendlich in der Oberfläche zu sehen ist, das kommt aus verschiedenen Quellen. Das heißt, verschiedene Schnittstellen werden da zusammengebracht. Wir haben vorher schon über die X-Road gesprochen, die Interoperabilitätsplattform, und da kommen tatsächlich verschiedene Datenbanken aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung zusammen. Die haben dann personenbezogene Informationen, die dort dargestellt werden. Das heißt ja, das ist letztendlich einfach nur eine Oberfläche, also ein Werkzeug für mich, damit ich als Nutzer mich mit den Vorgängen vertraut machen kann, ohne letztendlich irgendwo hinreisen zu müssen, ohne mich durch Akten zu wühlen. Letztendlich kann ich Dokumente über Schlagwörter durchsuchen, ich kann Kommentare hinzufügen, die auch hervorgehoben werden, damit man das auch im Gerichtssaal bei einer Verhandlung direkt mit Markierungen an die Wand werfen könnte, um dann letztendlich dort live Dinge abzuarbeiten, die dort zu sehen sind. Das heißt, der Gedanke, hier bei dieser Plattform ist ganz ähnlich zu dem, was wir vorher angesprochen haben, der Gesetzgebungsplattform. Dass man letztendlich alle Beteiligten zusammenbringt, zusammenarbeitet, um zusammen Fälle und Vorgänge zu lösen und zu Ende zu bringen.

Das klingt total spannend und so ein bisschen nach einer eierlegenden Wollmilchsau. Also auf jeden Fall in dem Kontext aber eine, die sich nicht zerfranst, sondern die wirklich bei allen Instanzen und Beteiligten zu einem Mehrwert führt. Wir werden gleich auch noch ein bisschen darüber sprechen, wie das in Deutschland aussieht. Davor möchte ich noch gerne auf einen Aspekt eingehen, der noch mal die Nutzenden sozusagen ganz am Ende noch mal ein bisschen hervorholt. Andreas, du hast dich ja jetzt im Laufe unseres Podcasts schon so ein bisschen als der Verfechter auch der Perspektive von Bürgerinnen und Bürgern herauskristallisiert. Du bringst immer wieder auch diesen Service-Gedanken herein, der konsequent wichtig ist, sich vor Augen zu halten bei der Verwaltungsdigitalisierung. Ich fand in dem Beispiel gerade von Liisa das total beachtlich, dass man jetzt sogar Unterhalt fürs Kind online beantragen kann. Also da muss ich gar nicht mehr zum Gericht laufen, sondern das geht über ein paar Klicks. Werden wir da in Deutschland auch hinkommen?

Andreas Rathgeb: Unter dem Stichwort oder dem Leitspruch des erleichterten elektronischen Zugangs aller Bürgerinnen und Bürger zur Ziviljustiz. Das ist letztlich das Justiz-Portal. Der Gedanke eins ist, erleichtert dorthin zu kommen. Das heißt, ich lege perspektivisch für alle denkbaren Klagearten online Klage ein oder ich beantrage bestimmte Dinge direkt online, unmittelbar und sehr einfach, weil es nur eine minimale oder quasi keine Hürde gibt. Das zweite daraus Ergebende ist, dass auch schnell eine Entscheidung getroffen wird. Die Basis ist dafür da. Unterlagen sind elektronisch vorhanden und idealerweise auch Überlegungen bis zur virtuellen Verhandlung, teilweise im Zusammenspiel. Dort sind wir unterwegs, dass es für bestimmte Aspekte schon geht, dass bei bestimmten Verfahren beispielsweise Zeugenbefragungen auf die Art und Weise hereingegeben werden. Das sind dort Überlegungen. Insofern ja, wir sind in Deutschland genauso unterwegs. Voraussetzungen werden dafür geschaffen, eben auch mit der elektronischen Gerichtsakte.

Jetzt haben die Beispiele noch mal gezeigt, was das für ein mächtiges Instrument ist, so eine elektronische Gerichtsakte. Löst die denn jetzt auf einen Schlag ganz viele Probleme oder kommt dann damit zeitgleich auch ganz viel Neues an Herausforderungen?

Andreas Rathgeb: Herausforderungen und Möglichkeiten, also beides. Eine Herausforderung ist tatsächlich, dass die Arbeit der Richterinnen, der Richter und aller Beteiligten natürlich anders aussieht und auch anders getaktet ist. Die Taktung war vielleicht früher das Faxgerät. Also es geht eben das Fax, und das ist ja nicht eine Seite, sondern es gehen vielleicht hunderte Seiten entsprechend beim Gericht ein, werden in physische Akte gelegt und werden weitergereicht. Das ist heute natürlich unmittelbar und direkt mit den elektronischen Postfächern, die nach außen wirken. Zum anderen das Arbeiten am konkreten Fall, weil auf einmal ein Bildschirm, ein gemeinsames Anschauen und ähnliche Dinge wichtig werden. Es ist ja doch vielfach ein Arbeiten mit Text. Die Menschen, die darin arbeiten, sind geschult, mit Texten umzugehen und sehen die auf einmal auf eine andere Art und Weise. Es werden wiederum Texte produziert. Diese Texte können jetzt natürlich mit elektronischer Unterstützung auch produziert werden. Auch das ist neu und anders und muss entsprechend eingeübt werden. Das sind so die Herausforderungen und ersten Chancen. Die zweite Dimension und viel mehr Potenzial kommen noch mal in dem Moment, in dem ich in dieser elektronischen Welt angekommen bin, in dieser digitalen Welt. Weil ich nun bestimmte Dinge automatisieren kann, kann ich Algorithmen anwenden, bestimmte Dinge auswerten, ich kann bestimmte Dinge vielleicht vollautomatisch auch abarbeiten lassen. Wir würden uns alle unwohl fühlen, wenn am Schluss nur noch eine Maschine entscheidet. Aber vielleicht kann eine Entscheidung vorbereitet sein und die Richterin oder der Richter in der Entscheidung damit unterstützt sein, sodass einfach ein schnelleres Verfahrensergebnis dann letztlich da ist. Und mit dieser ganz neuen Dimension an Möglichkeiten beschäftigt sich eine ganze Industrie. Wir sprechen von Legal Tech. Wir selbst produzieren oder erstellen auch Produkte als CGI, die in diesem Kontext wirken, wirksam werden und bestimmte Elemente dann automatisieren, digitalisieren und auf eine weitere Stufe bringen.

Da werde ich auf jeden Fall nachher noch mal nachfragen, weil wir das Thema Automatisierung und Machine Learning in diesem Podcast auf jeden Fall noch einmal behandeln werden. Tobias, deine Beobachtungen aus Estland: Ist es wirklich so der Heilsbringer oder sind da schon auch eine ganze Menge Herausforderungen zu meistern?

Tobias Koch: Ich glaube, so wie Andreas es auch angesprochen hat, dass es natürlich eine Veränderung für das Gerichtswesen, für die Justiz und für die Art und Weise, wie man arbeitet, bedeutet. Aber man war auch, glaube ich, bei der Einführung dieser Akte an dem Punkt angekommen, wo man halt schwer einfach mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen überhaupt noch handeln konnte, sodass wir heute sehen, dass Ressourcen, also was Papier angeht, was Zeit und Wege für den Bürger oder die Bürgerin angeht tatsächlich gespart werden. Das sind Dinge, die eine Rolle spielen und somit ein ganz anderer Takt irgendwie im Justizwesen herrscht. Ich denke, das ist auch so eine Voraussetzung für eine heutige Justiz. Wir leben in einer immer digitaleren Welt. Das heißt, dass letztendlich auch in der Justiz digital gearbeitet werden muss, um auch da Schritt halten zu können, um das Digitale zu verstehen und um die Lebenswirklichkeit der Menschen zu verstehen. Da möchte ich gerne das Thema Hate Speech im Internet und solche Themen ansprechen. Das sind Realitäten für Bürger. Und das setzt eine gewisse Flexibilität, Schnelligkeit, Dynamik auf Seiten der Justizorgane voraus. Und gerade deswegen müssen wir, denke ich, auch in diesem Bereich diese Schritte gehen.

Technologie im Justizumfeld kann also ganz viele Prozesse beschleunigen. Sie ist aber, wie ein nächstes Projekt aus Estland zeigen wird, auch dazu in der Lage, einzelne Aspekte innerhalb der Rechtspflege zu beschleunigen. Du hast es gerade schon ein bisschen angedeutet, aber ich verrate noch nicht, worum es geht, denn das wird jetzt unsere Expertin Liisa noch mal erzählen.

Liisa Abel: Es ermöglicht die Erstellung einer automatisch gedruckten Abschrift eines Protokolls aus der Audioaufnahmen der Anhörung. Hintergrund ist, dass eines der vorrangigen Ziele des Entwicklungsplans des Justizministeriums darin besteht, innerhalb einer angemessenen Zeit eine hervorragende Verwaltungsrechtspflege zu erreichen. Und wir glauben, dass dies eine der Lösungen sein könnte, die dazu beitragen wird.

Liisa hat gerade angesprochen, dass Text-to-Speech dabei helfen soll, in einer angemessenen Zeit eine hervorragende Rechtspflege zu betreiben. Andreas, ist Deutschland schon bereit für so eine Technologie a la Text-to-Speech oder haben wir da noch zu viel Vorbehalte, was das Vertrauen und die von dir hochgelobte Gründlichkeit in Deutschland bei der Automatisierung betrifft?

Andreas Rathgeb: In der Tat passieren schon erste kleine Prototypen dazu, in denen wir das zusammen mit der Justiz ausprobieren. Zum einen tatsächlich im Gerichtssaal, das Protokollieren. Es gibt noch eine zweite Stelle, wo das schriftliche Wortprotokoll auch nochmal eine besondere Relevanz hat. Und zwar tatsächlich bei einer Zeugenbefragung, sodass dann, wenn beispielsweise hier eine elektronische Datei vorliegt, in der eben die Befragung aufgenommen ist, die ebenfalls nochmals auch auf Justizseite nochmals mit Mithilfe von Text-to-Speech vertextlicht wird.

Tobias, wie ist das mit Vorbehalten in Estland, was diese Thematik betrifft? Bei Liisa klang es gerade so: Das ist super, das wird uns unterstützen. Gibt es da auch eine andere Seite? Wird das diskutiert oder ist da die Lust aufs Ausprobieren wieder größer?

Tobias Koch: Ich glaube, einen Schwerpunkt kann man hier auf das Wort „unterstützen“ setzen, das Liisa nutzt. Letztendlich handelt es sich um ein Werkzeug, das die Arbeit im Gerichtssaal erleichtern soll. Und das heißt, das, was da transkribiert wird, ist ein Arbeitsdokument. Also spuckt die Maschine kein fertiges Transkript der Verhandlung aus, sondern damit kann laufend gearbeitet werden. Wie Andreas auch gesagt hat, ist das Wort im Justizwesen von unheimlich wichtiger Bedeutung. Das heißt, Nuancen sind unheimlich wichtig. Es ist demnach ein Werkzeug, das genutzt werden muss. Was ich da vielleicht noch anbringen möchte: Die estnische Sprache wird von 1,3 Millionen Menschen weltweit gesprochen. Oder vielleicht sind es einige mehr mit den ganzen Expats, die überall in der Welt leben. Deutschland hat alleine 80 Millionen Einwohner. Die deutsche Sprache ist viel dominanter weltweit als die estnische Sprache, was natürlich in dem Kontext Künstliche Intelligenz, Text-to-Speech, Transkription und so weiter ein wichtiger Faktor ist. Dessen ist man sich durchaus bewusst. Das heißt, man muss die Algorithmen schulen, die dann den Text transkribieren. Unter anderem durch ein Projekt des Wirtschaftsministeriums werden Bürger dazu eingeladen, eine Rede zu halten, die estnische Sprache zu nutzen und damit die Algorithmen im Estnischen zu schulen. Das ist auch wieder eine Möglichkeit, die Sprache, aber auch Estland als Land letztendlich voranzubringen. Das heißt, man sieht es – denke ich – eher wieder als Möglichkeit.

Ja, das hast du schön zusammengefasst. Dieser Gedanke auch noch mal, dass Technologie für uns ja ein Werkzeug sein soll. Natürlich muss man auch mit Werkzeugen lernen umzugehen. Man kann sich auch auf eine Bohrmaschine nicht komplett verlassen, wenn man sie nicht selber noch mal in die Hand nimmt. Also die ist ja auch noch nicht autonom unterwegs. Kommen wir zum letzten Beitrag von Liisa. Sie wird uns jetzt noch mal in die Richtung führen, was denn so eine richtig große Veränderung noch mal sein wird im digitalen Bereich.

Liisa Abel: Der größte Game Changer in der Zukunft: Wenn man die Digitalisierung aus der Perspektive der Inneren Sicherheit betrachtet, sehen wir ein großes Potenzial in der Anwendung von maschinellen Lernfähigkeiten bei der Arbeit mit digitalen Beweisen. Das maschinelle Lernen selbst ist zum Teil eine Künstliche Intelligenz, die sich an eine sich verändernde Umgebung anpassen kann und somit die Fähigkeit hat zu lernen. Und um ein wenig genauer zu werden: Im Falle des maschinellen Lernens ist der Computer selbst in der Lage, einen eigenen Algorithmus zu entwickeln, der die gewünschten Informationen mit ausreichender Genauigkeit aus den Beispieldaten extrahieren kann. So könnte das maschinelle Lernen beispielsweise Ermittlern bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens helfen, wo es oft notwendig ist, eine große Anzahl digitaler Beweise zu sichten, um beispielsweise Spuren von Geldwäsche zu finden.

Also Machine Learning als großer Game Changer. Andreas, wie stehst du dazu?

Andreas Rathgeb: Wir sind darauf angewiesen, genau darauf zurückzugreifen. Ein Beispiel, nicht sehr erfreulich, aber es gibt es eben gerade in der digitalen Welt, ist das Thema Kindesmissbrauch. Hier wird ein entsprechendes Netzwerk ausgehoben, werden Festplatten gesichert oder eben Accounts, die diese Daten irgendwo in der Cloud speichern. Dann sind das alles Beweismittel, die dann zugänglich sind, und diese Beweismittel müssen gesichtet werden. Handelt es sich bei dem einzelnen Bild oder Video um Kindesmissbrauch? Und das passiert tatsächlich mit Hilfe von Machine Learning von entsprechender Software, die die Ermittlerinnen und Ermittler und letztlich die Staatsanwaltschaft in Deutschland unterstützt, die entsprechende Anklage vorzubereiten und zu identifizieren, welches sind die entscheidenden Bilder? Die besondere Herausforderung steckt wieder im Zusammenspiel mit den Menschen, die das eben auch tun und unterstützen, mit denjenigen, die dann entscheiden, wie jetzt die Software eingeführt wird. Beispielsweise ein Aspekt: Würde ein einzelnes Bild übersehen werden, das einen aktuellen Missbrauch zeigt, dann steckt da ja noch ein Mensch dahinter, der aktuell noch leidet. Und vielleicht würde das ein Mensch aktuell noch sehen und die Maschine, der Computer, der das auswertet, womöglich nicht. Das ist tatsächlich ein gewisses Dilemma, in dem wir stecken. Aber man kann sich gar nicht anders mehr vorstellen, also ganz ohne diese technischen Mittel, dass man eben mithilfe Künstlicher Intelligenz hier diese Detektion macht, ist es ebenfalls nicht vorstellbar. Zweiter Aspekt dabei ist die Menge an Daten, die die elektronische Welt mit sich bringt. Gehen wir wieder in einem solchen Fall vor, und es werden vielleicht in einem Messengerdienst viele Kontakte entdeckt. Dann sind all diese Kontakte verdächtig, dass sie vielleicht ebenfalls verbotenes Material besitzen könnten. Diese Kontakte haben alle wieder Handys, die müssen alle ausgewertet werden und man kann sich vorstellen, dass es Terabyte an Daten sind, die dann auf eine Justiz einprasseln. Absolut undenkbar. Das nicht auszuwerten, ist auf der einen Seite undenkbar, denn wir wollen den Missbrauch ja aufdecken, auf der anderen Seite undenkbar, das ohne technische Unterstützung zu machen. Also ich glaube in dem Beispiel wird sehr deutlich, wie stark wir auch darauf angewiesen sind, hier moderne Verfahren einzusetzen und die auch einfach nutzbar zu haben.

Und die Technologie entwickelt sich ja auch noch mal weiter. Die bleibt ja auch nicht ewig auf dem Stand, auf dem sie jetzt ist. Das heißt, da ist ja eher Luft nach oben, als dass wir wieder zurückgehen. Tobias, wie stehst du dazu?

Tobias Koch: Ja, ich denke, dass das, was Machine Learning und Künstliche Intelligenz versprechen, definitiv Game Changer sind. Ich finde es wichtig, dass Liisa gerade auch von Machine Learning sprach. Ich glaube für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz in dem Bereich brauchen wir noch Zeit und müssen das erst mal selber verstehen. Aber es ist definitiv ein unheimliches Hilfsmittel, große Mengen von Daten zu bearbeiten. Der Game Changer wird eben sein, wie der Mensch gemeinsam mit den Technologien in der Lage sein wird, Daten zu analysieren, Schlussfolgerungen zu ziehen und letztendlich Menschen und die Allgemeinheit mithilfe dieser Technologien zu schützen.

Wenn Digitalisierung der Justiz jetzt eben keine Modeerscheinung ist, was ist sie dann?

Tobias Koch: Eine absolute Notwendigkeit, würde ich sagen. 

Andreas Rathgeb: Sie ist die logische Konsequenz unseres digitalen Lebens. Wäre doch seltsam, wenn sich das nicht auch auf unseren Rechtsstaat und eben auch auf die Justiz eins zu eins auswirken würde.

Das war Folge sechs zum Thema Digitalisierung in der Justiz. Wir bedanken uns wie immer fürs Zuhören. Haben Sie Fragen, Anregungen oder Kritik? Wenden Sie sich gerne an Andreas Rathgeb über LinkedIn oder schreiben Sie eine Mail an mailto:andreas.rathgeb@cgi.com.

In der siebten und letzten Folge unseres Podcasts „Building a Digital Nation“ wenden wir uns intensiv noch dem Thema Mensch in der Digitalisierung zu. Und zwar nicht irgendwelchen Menschen, sondern denjenigen, die Entscheidungen treffen und tragen. Ob auf politischer Seite oder in entsprechenden Führungspositionen im Public Sector. Und wir bekommen von Siim Sikkut, dem ehemaligen CIO Estlands, mitgeteilt, was es braucht, um eine Digitalstrategie als politische Führungskraft erfolgreich umzusetzen.